Weg der Träume
Verabredung…«
»Ich verstehe, Mom«, wiederholte Sarah, diesmal entschiedener.
»Dann ist ja gut.«
Ihre Mutter klang erleichtert. »Ich lasse dich jetzt in Frieden. Es sei denn, du möchtest noch weiterreden.«
»Nein, ich glaube, wir haben alles besprochen.«
Trotzdem dauerte das Gespräch danach noch einmal zehn Minuten.
Spätabends, als Jonah schon schlief, schob Miles eine alte Kassette in den Videorekorder und lehnte sich zurück. Er schaute zu, wie Missy und Jonah ausgelassen in der Meeresbrandung nahe Fort Macon umherhüpften. Jonah war noch klein, nicht älter als drei, und seine Lieblingsbeschäftigung war es, Spielzeuglaster über die improvisierten Straßen zu schieben, die Missy ihm im Sand baute. Missy war vierundzwanzig - in ihrem blauen Bikini wirkte sie eher wie eine Studentin und nicht wie eine Mutter.
Im Film gab sie Miles Zeichen, er solle die Kamera weglegen und mit ihnen spielen, aber an jenem Morgen, das wusste er noch, hatte er sie lieber beobachtet. Er freute sich über ihren Anblick. Es tat ihm gut, die beiden zusammen zu sehen, weil er wusste, dass Missy Jonah auf eine Art liebte, die er selbst als Kind nie erfahren hatte. Seine Eltern waren nicht sehr liebevoll mit ihm umgegangen - sie waren keine schlechten Menschen, aber sie konnten ihre Gefühle nicht gut ausdrücken, nicht einmal ihrem eigenen Kind gegenüber. Und jetzt, wo seine Mutter tot und sein Vater meistens verreist war, kam es Miles so vor, als hätte er sie gar nicht richtig gekannt. Manchmal fragte Miles sich, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er Missy nicht kennen gelernt hätte.
Missy grub dicht am Wasser mit einer kleinen Plastikschaufel ein Loch, dann benutzte sie die Hände, damit es schneller ging. Knie nd war sie genauso groß wie Jonah, und als er sah, was sie machte, stellte er sich neben sie, dirigierte und gestikulierte, als sei er der Architekt. Missy lächelte und redete mit ihm. Ihre Stimme wurde allerdings vom endlosen Rauschen der Wellen übertönt, deshalb verstand Miles nicht, worüber sie sprachen. Der Sand, den sie um sich anhäufte, wurde klumpig, und nach einer Weile forderte sie Jonah auf, in das Loch zu steigen. Mit angezogenen Knien passte er knapp hinein, und Missy schaufelte den Sand wieder in die Grube und klopfte ihn um Jonahs kleinen Körper fest. In Minutenschnelle war er bis zum Hals eingegraben. Er sah aus wie eine Schildkröte mit dem Kopf eines kleinen Jungen.
Missy fügte hie und da noch etwas Sand hinzu und deckte auch seine Arme und F inger zu. Jonah wackelte mit den Fingern, wodurch der Sand herunter fiel, und Missy versuchte es erneut. Kaum hatte sie die letzten Hände voll Sand auf ihm verteilt, da bewegte er sich erneut, und Missy lachte. Sie legte ihm einen Klumpen nassen Sand auf den Kopf, und er hielt still. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn, und Miles las ihm von den Lippen die Worte »Ich hab dich lieb, Mommy« ab. »Ich dich auch«, war ihre Antwort. Weil sie wusste, dass Jonah jetzt ein paar Minuten still sitzen bleiben würde, wandte Missy ihre Aufmerksamkeit Miles zu.
Er sagte etwas zu ihr, und sie lächelte - wieder verstand man nichts. Im Hintergrund waren nur wenige Menschen zu sehen. Es war Mai gewesen, eine Woche, bevor der Touristenansturm losging, und ein Wochentag, wenn Miles sich richtig entsann. Missy blickte nach rechts und links und stellte sich in Pose. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte, die andere legte sie hinter den Kopf und sah ihn aus halb geöffneten Augen lasziv und verführerisch an. Dann gab sie die Pose auf, lachte verschämt und kam auf ihn zu. Sie küsste die Kameralinse.
Hier endete das Band.
Für Miles waren diese Videos ein Schatz. Er hütete sie in einer feuerfesten Box, die er nach der Beerdigung gekauft hatte, und er hatte alle schon Dutzende von Malen angeschaut. In ihnen war Missy wieder lebendig, sie bewegte sich, er hörte den Klang ihrer Stimme. Er hörte sie lachen.
Jonah hatte die Filme nie gesehen. Miles bezweifelte, dass er von ihrer Existenz wusste, denn er war noch sehr jung gewesen, als sie entstanden. Nach Missys Tod hatte Miles aufgehört zu filmen, wie er auch mit vielen anderen Dingen aufgehört hatte. Es war zu anstrengend. Er wollte an nichts erinnert werden, was mit der Zeit direkt nach ihrem Tod zu tun hatte.
Er wusste nicht, warum er sich ausgerechnet an diesem Abend die Videos anschaute. Vielleicht hatten ihm Jonahs Fragen bewusst gemacht, dass am nächsten Tag etwas Neues in sein Leben treten
Weitere Kostenlose Bücher