Weg mit den Pillen
installiert, die Pförtnerwache ist ausnahmsweise besetzt, und schon bricht das Chaos aus. Der herbeieilende Pathologe war noch nie in meinem Dienstzimmer, begreift daher die Situation nicht und sieht nur den traubenzuckerinduzierten Schaum vor Max’ Mund, den er für die Folge von Zyankali hält. Da Max auch noch erbricht, riecht es sofort bitter. Die Diagnose steht fest: »Zyankalivergiftung«. Also ab ins Klinikum rüber, Magen auspumpen. Max hört ständig die Worte der Ärzte von der Blausäurevergiftung und zeigt alle Symptome einer solchen Vergiftung. Er verliert das Bewusstsein, der Puls rauscht nach unten, er bekommt die üblichen Adrenalin-Injektionen, das Herz rast sofort wieder, dann Infusionen, Magen auspumpen, das ganze Repertoire. Irgendwann stabilisiert sich der Körper auf niedrigem Niveau.
Inzwischen bin auch ich wieder da, die »Giftflasche« liegt freundlicherweise bei unserem Pförtner. Mein erster Weg führt mich in mein Dienstzimmer, ich schließe den Giftschrank ab und hänge mir den Schlüssel um den Hals, erst dann alarmiere ich den Chef. Der kommt aus seiner Freizeit zurück und nimmt die »Giftflasche« mit in die Pathologie, schnappt sich den Herrn Kollegen, der sich gerade noch in seinem Ruhme sonnt, einen Menschen von einer sonst tödlichen Blausäurevergiftung zurück ins Leben geholt zu haben, und macht ihn vor der ganzen Mannschaft lächerlich, indem er jedem Anwesenden ein Stück »Cyanid« = Tic Tac anbietet. Dann gehen der Chef und ich hinüber in die Klinik, einen vor Wut über sich selbst schäumenden Pathologen zurücklassend. Auch der Oberarzt vom Dienst lacht sich halb tot. Mein Chef nimmt am Krankenbett Platz. Nach etwa einer halben Stunde erwacht Max. Mein Chef sagt zu ihm »Hallo, Du bist nicht im Himmel und auch nicht in der Hölle. Es ist viel schlimmer. Du hast nur Lutschbonbons geschluckt.«
Was war hier passiert? Der arme, liebeskranke Medizinstudent will sich vergiften, sieht die Flasche, von der er meint, sie enthalte Zyankali, und schluckt eine riesige Menge, von der ihm wirklich nur schlecht werden kann. Das erzeugt alle Symptome einer entsprechenden Vergiftung, welche durch den herbeieilenden Spezialisten potenziert werden, der durch die Umstände in der Diagnose irregeführt wird. Er zementiert die vermeintliche Blausäurevergiftung sprachlich-psychologisch – und in der Tat sieht es so aus, als habe der arme Student eine veritable Blausäurevergiftung. Vermutlich hat er sich in seinem Liebeswahn und seiner Todessehnsucht so in die Symptomatologie hineingesteigert (die er natürlich aus seinem Studium gekannt hat), dass sie auch für eine Weile durchaus physiologisch »echt« war.
Diese beiden kleinen Episoden machen deutlich, wie mächtig negative – und natürlich davon abgeleitet auch positive – Kommunikationssituationen und Erwartungen sind. Die Placeboforschung nahm ja ihren Ausgang mit Walter B. Cannons klassischer Untersuchung zum Voodoo-Tod. 38 Darin berichtet er von Fallbeispielen aus Australien, bei denen Menschen, die ein Tabu gebrochen hatten, ein Zauber an die Tür geheftet wurde. Das war für den Betroffenen das Zeichen, dass ein Hexer ihn mit einem Fluch belegt hatte und er sterben müsse. In aller Regel taten die meisten Verhexten dann ihrem Hexer auch den Gefallen. Sie wanderten aus der Gemeinschaft aus, hörten auf zu essen und zu trinken oder starben einfach so.
Die negative Kommunikation führte in diesem Falle zu einer sich selbst verstärkenden Spirale, einem regelrechten Teufelskreis. Das Wissen »Ich bin verflucht worden« führt dazu, dass man sich selbst entsprechend verhält. Außerdem löst es eine Fülle physiologischer Prozesse aus, die Cannon als Stress identifizierte – Stress in einem Ausmaß, dass er lebensbedrohlich wurde. Wichtig ist dabei, so betonte Cannon, dass der Zauber sichtbar ist, dass alle Beteiligten das Weltbild teilen sowie dass alle Beteiligten an die Wirksamkeit der Zauberei glauben. Dann kann der Fluch seinen Lauf nehmen. Er wird in aller Regel dazu führen, dass bei den Verfluchten genau das eintritt, was der Fluch vorgibt bewirken zu wollen: Der Fluch ist
eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Damit tritt das ein, was man vorhergesagt hat – nicht, weil man ein guter Hellseher ist, sondern weil man das Eintreten des Ereignisses durch seine Aussage kommunikativ erzeugt hat. Für solche negativen Effekte der Kommunikation und der Psychologie hat sich der Ausdruck »Noceboeffekte« eingebürgert,
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