Wehrlos: Thriller
ihre Flugtickets auf Lebenszeit fast umsonst zu bekommen. Sobald sie Gelegenheit dazu hatte, flog sie mit einer ihrer alten Kolleginnen oder einer Freundin, zumeist mit Monica Olsen, irgendwohin. Rachel sah, wie die Tür sich schloss.
Ein spirituelles Seminar in Rom … mal ganz was anderes.
KAPITEL VIER
»Ich muss hier raus, ich halte es nicht mehr aus!«, rief Rachel, als Morten neben ihr saß. »Meine Schwiegermutter hat einen mystischen Anfall, ich mache mir Sorgen. Jetzt betet sie zu Papst Johannes Paul II ., auf dass er Wunder bewirke …«
Morten lachte verlegen. Seine großen knochigen Hände lagen auf den Knien, seine Miene war mürrisch. Konversation zu betreiben, das war nicht seine Sache – und schon gar nicht, wenn es um persönliche Dinge ging. »Es scheint ihnen doch gut zu gehen. Dir übrigens auch. In zwei Tagen bist du draußen.«
Rachel sprach nie über Sachas Problem, das war ihre ganz persönliche Angelegenheit. Aber jetzt musste sie ihr Herz ausschütten. »Weißt du, Sacha hat völlig unerwartet Fortschritte gemacht. Er ist mit seinem Laufwagen zwei Schritte gegangen. Ist das nicht verrückt?«
Morten nickte schweigend.
»Aber trotzdem beunruhigt mich Christa«, beharrte Rachel. »Ich glaube, sie sorgt sich so sehr um uns, dass sie sich in religiösen Schnickschnack flüchtet. Früher war sie nicht so.«
Morten schüttelte den Kopf. »Das bildest du dir vielleicht nur ein.«
Rachel seufzte. »Hast du die homöopathischen Mittel bekommen, um die ich dich gebeten habe?«
»Ja. Und ich habe dir auch Biotees mitgebracht.«
Rachel öffnete das kleine blaue Röhrchen, entnahm ihm mehrere Globuli und ließ sie unter der Zunge zergehen.
»Vielen Dank. Und Karl?«
»Nichts Neues. Sein Zustand ist unverändert, wir müssen abwarten.«
»Bis wann?«
»Das Hirnödem ist immer noch sehr groß, die Flüssigkeit muss resorbiert werden. Deshalb haben sie ihn in ein künstliches Koma versetzt.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Was für eine Tragödie … und Joanna?«
»Das Schädeltrauma ist nicht weiter schlimm, sie behalten sie nur zur Beobachtung hier.«
»Sobald ich auf den Beinen stehen kann, ohne ohnmächtig zu werden, besuche ich sie. Danke, dass du Christa so schnell informiert hast.«
»Soll ich noch jemandem von deiner Familie Bescheid sagen?«
Rachel schüttelte erneut den Kopf. »Christa und Sacha sind meine einzige Familie.«
Rachel dachte an ihren Vater Jorg Karlsen, einen dänischen Anwalt, der zwanzig Jahre lang die Interessen der Nuklearindustrie vertreten hatte und jetzt Anwalt eines wichtigen Ölkonzerns war. Von Jugend an hatte sie nie eine Diskussion mit ihm führen können, die nicht im Streit geendet hätte. Ihre Mutter war Französin und ebenfalls Anwältin, hatte aber ihren Beruf nie ausgeübt und sich stets ihrem Mann gefügt, den sie ebenso fürchtete, wie sie ihn liebte. Rachel konnte sich nicht erinnern, je ein vertrauliches oder intimes Gespräch mit ihr gehabt zu haben oder auch nur körperlichen Kontakt. Die beiden lebten heute in einer luxuriösen Zweihundert-Quadratmeter-Wohnung im noblen 16 . Pariser Arrondissement. Vor drei Jahren hatte ihre ältere Schwester Natacha, eine Kunsthistorikerin, einen brillanten Kardiologen geheiratet, den sie anlässlich einer Kulturreise in Venedig kennengelernt hatte. Die prunkvolle Hochzeitsfeier fand in einem teuren Pariser Hotel statt. Nicht weniger als dreihundert Gäste waren an diesem 16. August geladen – genau zur Zeit des Grindadr á p . Da Rachel sich zu den Färöer-Inseln begeben musste, hatte sie die offizielle Einladung mit ein paar freundlichen Zeilen abgesagt. Das hatte ihr die Familie nie verziehen. Und Rachel war der Ansicht, dass ihre Eltern endlich einen guten Vorwand gefunden hatten, um sie bis ans Ende ihrer Tage abzulehnen.
Jede Familie braucht – wie schon Hans Christian Andersen festgestellt hatte – ein hässliches Entlein, einen Außenseiter, der nie das sagt oder tut, was man von ihm erwartet. Jemanden, der die Missbilligung der anderen auf sich konzentriert, eine Art Blitzableiter für familiäre Spannungen. In der Familie Karlsen hatte sie diese Funktion übernommen.
Dabei hatte sich Rachel diese Rolle nicht ausgesucht. Als jüngstes Kind von Eltern, die mit sich selbst zu beschäftigt waren, und neben zwei großen Schwestern, die alles, was sie begannen, erfolgreich zu Ende führten, schnitt sie schlecht ab. Sie war eine mittelmäßige, undisziplinierte und vorlaute Schülerin gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher