Wehrlos: Thriller
verscheuchte sie diesen Gedanken aus ihrem Kopf.
»Wie sieht dein Programm für morgen aus?«, fuhr er fort.
»Ich gehe zum Bahnhof, um die Aktivisten in Empfang zu nehmen, die um neun Uhr ankommen. In der Turnhalle erhalten sie ihre Instruktionen, und anschließend ziehen wir los. Später treffen wir uns alle auf dem Bahnhofsplatz, um die Kundgebungen zu hören.«
»Kann ich dich tagsüber irgendwann treffen?«, fragte Samuel lächelnd. Und dieses Lächeln war einfach entwaffnend.
»Natürlich.«
»Kannst du mir das Interview mit dem Leiter von Greenpeace verschaffen?«
»Dazu musst du mit seinem Pressesprecher Kontakt aufnehmen. Ich gebe dir seine Handynummer. Sag, dass du sie von mir bekommen hast.«
Rachel überreichte ihm gerade die Telefonnummer, als sie einen langgliedrigen jungen Mann bemerkte, der sein braunes Haar zum Pferdeschwanz gebunden hatte, während sein üppiger Bart auf sein rotes GG -T-Shirt herabfiel. Das war Jesus. Man musste kein großes Kirchenlicht sein, um zu verstehen, wie er zu seinem Spitznamen gekommen war. Er hatte mehrere pazifistische Aktionen vorzuweisen, aber auch einige handfestere Interventionen für die Climate Action Group, die eine härtere Gangart propagierte, um die UN -Mitgliedsstaaten zur Unterzeichnung eines ehrgeizigen Abkommens zu zwingen. Er war am Vorabend in Kopenhagen eingetroffen und plante eine Demonstration der Stärke bei den Großdemos am Samstag. Rachel sprang auf und schickte sich an, zu diesem Mitstreiter zu gehen, den sie sehr mochte, dessen Intelligenz und bedingungslosen Mut sie immer geschätzt hatte. Samuel musterte sie aufmerksam.
»Wer ist das?«
Bereits im Gehen begriffen, antwortete sie ausweichend: »Ich bin verabredet. Wir sehen uns später, okay?«
Samuel blickte ihr neugierig nach, als sie rasch auf Jesus zulief. Dieser sah Rachel kommen und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
»Hi, Rach’! Wie geht es dir?«
Sie umarmten sich. Dann deutete Jesus auf die Haupttreppe. »Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen?«
Sie gingen die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf, einem der wenigen Rückzugsorte im Bella Center. Der junge Aktivist setzte sich auf die Stufen, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Rachel nahm neben ihm Platz.
»Es freut mich, dich hier zu sehen, Jes’.«
»Mich auch. Und, wie läuft es?«
»Es geht voran, aber die Verhandlungen sind hart.«
»Yep.«
Seine grünen, goldgesprenkelten Augen, seine breite, freie Stirn mit durchscheinender Haut, sein griechisches Profil, sein Bart und sein langes rötlich braunes Haar verliehen ihm die Aura eines Propheten. Diese kämpferische Seele, vernünftig und rebellisch zugleich, empfand große Wertschätzung für Rachel, kannte ihre Fähigkeiten, ihre Hartnäckigkeit und Unerbittlichkeit.
»Ich musste dich sehen«, sagte er. »Seit ich deinen Blog gelesen habe, verfolge ich diese Sache mit den Kapseln, weißt du. Die Klage und das Fiasko mit den Gegengutachten und so weiter. Eine Katastrophe. Es tut mir sehr leid für dich.«
Rachel presste die Lippen aufeinander. Jesus strich sich über den Bart. »Ich werde dir etwas erzählen, Rach’. Ein Riesending.«
»Okay, ich höre.«
Jesus beugte sich zu ihr und ließ ohne Vorwarnung eine Bombe hochgehen: »Ich weiß, wer der Drahtzieher hinter Climategate ist.«
Rachel fuhr zusammen, als hätte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen. Climategate war eine Angriffswelle gegen die Forscher des Weltklimarats, die im November 2009 eingesetzt hatte. Nachdem Hacker die Server der Climatic Research Unit, eines der einflussreichsten Klimaforschungszentren an der Universität von East Anglia in Großbritannien, geknackt hatten, konnte man vertrauliche Dokumente, die zwischen den Klimaforschern ausgetauscht worden waren, frei im Internet finden. Die meisten waren zwar bedeutungslos, andere Unterlagen jedoch – in denen Zweifel geäußert wurden – waren ein gefundenes Fressen für die »Klimaskeptiker«, die Oppositionsbewegung, die den Menschen als Ursache für den Klimawandel und dessen mögliche Folgen leugnete. Zudem waren sie ein Beweis für die Doppelzüngigkeit der Wissenschaftler. Das Klimaforschungszentrum wurde daraufhin beschuldigt, Daten zu unterschlagen, die der These, der Klimawandel sei den Menschen zuzuschreiben, widersprechen könnten. Man vermutete, dass diese Hetzkampagne der Industrie allgemein und der Erdölindustrie im Besonderen nutzte, die sich strengeren Vorschriften zum Schutz der Umwelt widersetzte. Damals gab
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