Weihnachten mit Mama
Ich verfluchte Mama. Nein, ich verfluchte Mama natürlich nicht. Ich verfluchte mich, voller Selbstmitleid, dass es mir nicht gelang, diese vermaledeite Golddecke aufzutreiben.
Fieberhaft trieb ich mein Gehirn an, einen Ausweg zu finden. Denk nach, Johannes, denk nach! Mehrere kleinere Golddecken aneinanderlegen? Wie sah das denn aus! Doch Tischläufer? Mama mochte keine Tischläufer. »Die sehen aus wie gewollt und nicht gekonnt!« Eine andere Farbe? Dann passte das Geschirr nicht. Und die Vorstellung, diese ganze Geschirrkistenarie noch einmal zu singen, versetzte mich augenblicklich in Panik.
Frustriert ging ich durch die Theatinerstraße Richtung Odeonsplatz. Auch die Fünf Höfe ließ ich nicht aus, unternahm hier und dort noch einen Versuch, mit niederschmetterndem Ergebnis. Dann stapfte ich durch den Schnee zurück, Richtung Schwabing, den Kopf eingezogen wie ein Schüler, der sich mit seiner Fünf im Schulranzen nicht nach Hause traut.
Und dann … endlich … hatte mein Schutzengel wieder ein Einsehen. Wo warst du so lange, Engelchen? Er zauberte mir ein Schaufenster vor Augen, besser: Er ließ mich einen Blick durch das Schaufenster ins Innere eines großen Geschäfts mit nah- und fernöstlicher, irgendwie orientalischer oder exotischer Einrichtung tun. Der Laden hieß Karawanserei oder Marrakesch oder so ähnlich, und ich dachte noch »Die haben’s gut … kein Weihnachten!« Als ich die güldene Decke von geradezu Tadsch-Mahal-haften Ausmaßen entdeckte, die mitnichten auf einem Tisch lag, sondern vielmehr an der Wand hing wie ein Teppich aus Tausendundeiner Nacht.
Die Decke war ein Traum. Sie war von einem dunklen, durchwirkten Gold, bestickt mit Mustern aus Hellgold, Rot und Blau. Unzählige winzige eingenähte Spiegel schufen die Illusion eines Sternenzelts. Sie war riesig, bestimmt – inzwischen waren meine Augen geübt – zwei mal sechs Meter groß. Und sie hing hinter dem Schreib- oder Kassentisch. Als ultimativer, magnetisierender Blickfang, der jeden, der ihn von draußen erblickte, unwiderstehlich in den Laden zog. An der Eingangstür war ein kleines Schild angebracht: Inhaber Sindar Salamander. Mit den Öffnungszeiten.
Eine orientalische Glocke ertönte, als ich die Tür öffnete. Sindar Salamander ließ nicht auf sich warten, sondern kam direkt auf mich zu. Vermutlich verirrten sich zur Weihnachtszeit nicht viele Kunden in sein Geschäft. Der Inhaber war klein, hatte kurz geschnittenes tiefschwarzes Haar, glutvolle Augen. Er war exquisit gekleidet und äußerst gepflegt. An seinen feingliedrigen Händen funkelten zwei dezente Ringe. In den Knoten seiner Krawatte hatte er – wie altmodisch war das denn! – eine Perle gesteckt. Die einzige Nachlässigkeit, die er sich gegönnt hatte, war ein in die Brusttasche seines Sakkos gewurschteltes Einstecktuch, das vorwitzig herauslugte.
»Guten Tag, mein Herr«, sagte er in perfektem Deutsch mit ganz leichtem französischem Akzent und mit einem wohlwollenden, distinguierten Lächeln. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Hmm … ja …«
»Suchen Sie vielleicht noch ein schönes Weihnachtsgeschenk? Für Ihre Frau Gemahlin?«
»Hmm … nein …«
»Oder für Ihre Frau Maman ?« Er hatte das französische Wort für Mama gewählt, wohl um seine kosmopolitische Einstellung zwischen Orient und Okzident zu demonstrieren. »Wir haben, wie Sie sehen, eine sehr große Auswahl.«
»Das sehe ich … ja, wirklich … eine sehr schöne Auswahl.« Mein Blick schweifte anerkennend umher. Teppiche, Stoffe, Kleinmöbel, Kissen, Laternen, Posamenterien. Sindbads Wunderhöhle.
Salamanders Lächeln wurde breiter. »Schauen Sie sich ruhig um … Und wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich.«
Ich beschloss, gleich aufs Ganze zu gehen.
»Ja … wenn ich ehrlich sein soll … eine Frage habe ich.«
Sindar Salamander hob erwartungsfroh die Augenbrauen. Dann zog er das Einstecktuch hervor, tupfte sich damit symbolisch die Stirn und steckte es wieder ein. Diese Geste sollte ich noch öfter sehen. Er machte eine auffordernde Handbewegung. Ich machte eine hinweisende Kopfbewegung.
»Ich bin an dieser Decke dort interessiert.«
»Oh, Monsieur … die ist wirklich wunderbar, nicht wahr? Aber … so leid es mir tut … sie ist unverkäuflich … sozusagen.«
»Sozusagen?« Ich klammerte mich an dieses Wort, als hinge mein Leben davon ab.
»Ja, sozusagen«, bekräftigte er. »Wissen Sie … sie gehört zum Inventar, zur Einrichtung, zur
Weitere Kostenlose Bücher