Weihnachten mit Mama
erleuchteten Fenstern hoch, entdeckte unseren Weihnachtsbaum im Salon. Sie wandte sich um und lächelte mir zu, als ich neben sie trat.
» Joyeux Noël, Jean «, sagte sie.
» Joyeux Noël, Julie «, sagte ich. »Komm, wir gehen hinein.«
15
Wir sind übrigens gar nicht so schlimm
W o geht’s denn hier zum Schampus?«, krähte es von der Wohnungstür her. Der erste Gast war eingetroffen, um 19.15 Uhr, also eine Viertelstunde vor der Zeit, und ich hätte mein kleines, überschaubares Vermögen darauf gewettet, dass nur eine Person sich so Entrée verschaffen konnte: Oma Annerose. Mamas Mama. Die war inzwischen weit über achtzig, aber geistig vitaler und körperlich beweglicher als ich, der ich in Zeitschriften-Tests mit der tückischen Überschrift »Wie alt sind Sie wirklich?« immer mit einer Zahl weit über meinem tatsächlichen Alter abschnitt. Oma steckte uns alle in die Tasche. Sie schien nicht einmal zu altern, irgendwann zwischen sechzig und siebzig hatte sie sich genau das Maß an Falten zugelegt, das sie für noch tolerabel ansah. Danach war Schluss mit dem Altern.
Annerose ist von unschlagbarem Wortwitz, aber sie hat auch eine Unverfrorenheit an sich, die bei Leuten, denen sie zum ersten Mal begegnet, eine Art Schockstarre auslöst. Und ihren berüchtigten Kommandoton muss man zu nehmen wissen, am besten mit Humor.
Mich, den sie aus mir unerfindlichen Gründen für einen Wesensverwandten hielt, begrüßte sie ironisch: »Na, mein Junge, was macht das Big Business ?« Sie sagte: »Bik Bisiniiiss.« Ich grinste gequält, was sollte ich darauf schon sagen. Nicht, dass Oma Annerose überhaupt eine Antwort erwartet hätte, sie wollte mich nur provozieren. Sie hakte sich bei mir unter, tätschelte meinen Arm und steuerte auf den Salon zu: »Komm, wir geben uns die Kante!«
»Das tun wir, Oma.«
» Mutter!« Mamas Blick war die reinste Form des Vorwurfs, die man sich vorstellen konnte.
»Was denn, mein Mädchen?«, fragte Oma arglos.
»Mein Geburtstag ist doch keine Weinverkostung oder ein alkoholseliges Gelage.«
Oma warf ihr einen lauernden Blick zu. Wieder einmal war Mama ihr in die Falle getappt.
»Aber doch auch kein Fastenexerzitium, oder? Du wirst ja wohl ein paar Flaschen kalt gestellt haben. Oder soll dies hier etwa eine Bottle-Party sein? Ich hab keine Pulle mitgebracht …«
Mama winkte ab. Sie hatte keine Lust auf solche Wortwechsel mit ihrer Mutter, wie sie sie schon Hunderte Male erlebt hatte.
Oma ließ ihren Blick wohlwollend über die Bühne schweifen, auf der an diesem Abend das Erfolgsstück Willkommen bei den Siebenschöns aufgeführt werden sollte. Weihnachtsbaum, Geschenkepyramide, Krippe – alles fand Gnade vor ihren prüfend blickenden Augen, die noch immer keine Brille brauchten, um Gut und Schlecht voneinander zu unterscheiden. Die goldene Tischdecke allerdings entlockte ihr ein hinterhältiges Grinsen.
»Meine Güte, Betty, erwartest du den Kalifen von Bagdad?«
Mama nahm, wie immer, alles ernst und persönlich. Sie griff sofort auf, was sie für einen Fehdehandschuh hielt.
»Wieso, Mutter?«
»Na, diese Decke …« Oma griff sich ins fein ondulierte Haar und rückte eine Spange zurecht.
»Was ist damit?«
»Sie sieht aus, als hätte Harun al-Raschid sie dir für eine traumhafte Liebesnacht in seinem orientalischen Zelt verehrt.«
»Nun … das erste Weihnachtsfest fand ja wohl im Vorderen Orient statt, wenn ich richtig informiert bin.« Mein Vater verstand es immer am besten, Oma den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Wo du recht hast, hast du recht.« Sie tätschelte auch ihm den Arm und blinzelte ihm verschwörerisch zu. »Mein lieber Sultan!«
Der liebe Sultan blinzelte zurück. Eine Entente cordiale , die Mama immer wieder auf die Palme brachte. Um im Bild zu bleiben. Sie hasste es, wenn sich ihre Mutter mit ihrem Mann verbündete. Das konnte nur gegen sie gerichtet sein.
Erneut klingelte es an der Wohnungstür, und diese vielversprechende Erörterung, die Oma liebend gern noch auf die Spitze getrieben hätte, wurde unterbrochen. So ließ sie sich nur von Papa zu ihrem Platz führen, wo sie ihr Abendtäschchen über die Stuhllehne hängte und sich erwartungsfroh hinsetzte: Die Show kann beginnen. Lasst die Girls rein!
Und die Girls kamen tatsächlich: Mamas Schwestern, Charlotte und Karin, Letztere mit ihrem Mann Bernhard im Schlepptau. Mit sichtbarem Stolz führte Mama ihre ältere Schwester, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen und mit der sie nun
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