Weihnachten mit Mama
Jörn, dieses nordische Muskelpaket, das sie mehrere Male im Schlepptau mit sich geführt und das eine gewisse modische Auffälligkeit an den Tag gelegt hatte, wodurch er sich unauslöschlich in unser Gedächtnis eingegraben hatte. Vor allem in das meines Vaters, der sich stets mit Eleganz und Stil zu kleiden weiß und auf jegliche übertriebene Nonkonformität mit Stirnrunzeln und Befremden reagiert. Nicht, dass er etwas moniert hätte, doch auch ihm war aufgefallen, dass die schreiend bunten und abenteuerlich gemusterten Hemden, die Jörn trug, wohl zu den wenigen Klamotten gehörten, die er sich in Eigenregie gekauft hatte. Als Lauras Freund sich mal verabschiedet hatte und die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen war, murmelte mein Vater bloß: »Das Hemd hat in Tierversuchen schon drei Affen blind gemacht.«
»Wem sagst du das«, hatte Laura geseufzt. »Glaubst du, er hätte bislang auch nur eines der Polohemden angezogen, die ich ihm gekauft habe?«
»Du hast deine Männer einfach nicht im Griff«, ironisierte Papa Lauras offenkundiges Unvermögen, Jörns modische Vorlieben zu ändern. Seine Tochter zuckte nur mit den Schultern. Sie hielt sich nie lange mit Dingen auf, die sie nicht zu ändern vermochte.
»Oh, du bist es schon wieder«, sagte Laura mit gespielt-betonter Gleichgültigkeit, bevor sie die Arme ausstreckte und mich an sich zog.
Schon wieder? Ich hatte sie exakt ein Jahr nicht mehr gesehen, das heißt, ich meine: angezogen, denn auf Plakaten war sie mir natürlich begegnet. Wie auch immer, ich schenkte ihr ein müdes Lächeln, umarmte sie jedoch gern. Sie roch gut, sie fühlte sich gut an, und ihre Begrüßungsküsschen waren eine Delikatesse. So auch heute. Wäre ich nicht ihr Bruder, würde ich mich prompt in sie verlieben. Immer wieder. Die Chemie stimmt einfach zwischen uns, wohlgemerkt, seit ihrem achtzehnten Lebensjahr, als sie endlich ihre rosaroten Mädchenallüren abgelegt und für einen älteren Bruder ernst zu nehmender geworden war.
»Hallo, mein Sternchen!«, sagte ich.
» Sternschen!« imitierte Julie mich, als sei sie eifersüchtig auf diese liebkosende Begrüßung. Alle lachten. Mit Julie legte Laura dann eine kabarettreife französische Begrüßungsarie hin, mit der sie deren mokante Ironie konterkarierte.
»Das Beste hast du leider verpasst«, sagte meine Frau.
»Oh … ja? Was denn?«
»Papas Laudatio«, sagte ich. »Sie war umwerfend.«
Beifälliges Nicken der gesamten Tafelrunde.
»Wie schade!«, sagte Laura. »Paps … kannst du mir verzeihen?«
Mein Vater lächelte begütigend. »Schon gut, meine Kleine. Wir stellen die Rede nachher ins Internet.« Die jüngere Generation verstand die Anspielung. Max prustete und drückte Dorle an sich.
Mama hob ihr Champagnerglas, prostete jedem ihrer Gäste zu und hieß alle noch einmal willkommen. Laura bedachte sie mit einem besonders warmen Blick. Dann trug Francis ein erstes Amuse gueule auf, Tiroler Schinken mit Hausbrot und Butter. Der Butler sollte sich diesen Abend als Mamas Glücksgriff herausstellen, er hatte wirklich alles perfekt im Griff. Perfect Service eben. In jeglicher Hinsicht.
Mit Laura war die Gesellschaft komplett. Mamas Drehbuch sah vor, im ersten Akt dieses denkwürdigen Abends zunächst Geburtstag zu feiern, mit einem festlichen Mahl, sodann zu Weihnachten überzugehen, mit der üblichen Dramaturgie des Vortrags der Geburtsgeschichte Jesu, des Singens von Weihnachtsliedern und der großen Bescherung. Allein das Auspacken der Geschenke würde kaum weniger als eine Stunde in Anspruch nehmen. Wobei ausgemacht war, dass nicht alle Gäste sich gegenseitig beschenkten, sondern nur Mama beschenkt wurde und meine Eltern ihren Gästen Gaben zudachten. So blieb das Ganze doch übersichtlich.
Also wurde zuerst diniert. Francis servierte die Geflügelconsommé, die wirklich exquisit gelungen war. Als Vorspeise gab es Entenconfit mit einem weihnachtlichen Dialog zweier Kompotts: winterlich gewürzter Pflaume und vanillig-zimtiger Orange. Rede und Gegenrede dieses Dialogs der Früchte waren hinreißend.
Und dann stand ursprünglich der Truthahn auf dem Menüplan, goldbraun aus dem Ofen, dem Film Hannah und ihre Schwestern würdig, mit den klassischen Beilagen. Da aber der Truthahn sich sozusagen bereits ins Jenseits verabschiedet hatte, ohne noch den Weg durch menschliches Gedärm zu nehmen, Papa also auf das Vergnügen verzichten musste, das Flügeltier mit großen Messern zu tranchieren und vorzulegen, kam
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