Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
der erste Schnee fiel. Und wenn wir bei Sonnenaufgang zum Arbeitsausmarsch am Lagertor standen, kroch uns der morgendliche Frost schon in die Klamotten. Das Lager war für uns Kriegsgefangene — den Wojennoplennij — mit der Zeit so eine Art Zuhause geworden. Wir gingen in den achten Nachkriegswinter hinter Stacheldraht. Nach den leidvollen und kraftzehrenden Jahren in der gefürchteten Strafregion Workuta im Norden des Sowjetlandes arbeiteten wir in Stalingrad, dem heutigen Wolgograd, und halfen dort mit, wieder aufzubauen, was einst im Krieg zerstört worden war. Aber schon im folgenden Frühjahr schickten uns die staatlichen Organe erneut auf «Etappe». Unser Transport ging nach Nordost in den Ural, nach Swerdlowsk und endete schließlich in einem Barackenlager am Ortsrand von Asbest.
Inzwischen hatten wir uns mit der neuen Situation abgefunden und uns eingerichtet, soweit davon unter den Gegebenheiten die Rede sein konnte. Dabei hatten sich gerade in Asbest die Verhältnisse unseres Gefangenenlebens beachtlich gebessert. Seit geraumer Zeit hatte nämlich die Gewahrsamsmacht den über uns verhängten Status für Strafgefangene aufgehoben. Damit entfielen erhebliche Repressalien gegen uns. Wichtigste Erleichterung war die Aufhebung des allgemeinen Schreibverbots. Wir durften nach mehrjähriger Unterbrechung einmal monatlich an unsere Angehörigen nach Deutschland schreiben und von dort Post- und Paketsendungen empfangen. Dies erschien uns zunächst so unwahrscheinlich, daß kaum einer an eine derartige Möglichkeit glauben mochte. Aber das Wunder geschah! Die von uns geschriebenen Doppelkarten der Kriegsgefangenen-Post kamen nach drei bis vier Monaten als Antwort von unseren Familien aus Deutschland zu uns zurück. Und nach schleppendem Anlauf erreichten uns seit dem Sommer 1952 immer mehr Pakete aus der fernen Heimat. Eine nicht zu beschreibende Freude und Hilfe für uns. Das Bewußtsein, die daheim haben uns nicht vergessen, sie denken an uns, stehen zu uns, stärkten Hoffnung und Lebenswillen. Hinzu kam, daß der Hunger aufhörte. Der Ernährungs- und Gesundheitszustand der Gefangenen besserte sich zusehends. Wohl dem, der mit Post- und Paketsendungen bedacht wurde. Aber es gab auch Mitgefangene, denen es trotz mannigfacher Versuche nicht gelang, Verbindung zu ihren Angehörigen zu bekommen. Betroffen davon waren vor allem die aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien stammenden Kameraden. Zu ihnen zählte Bruno Plauschien, ein junger Ostpreuße aus Bartenstein. Nachdem der Vater gefallen war, mußte der damals Siebzehnjährige noch kurz vor «Toresschluß» Soldat werden. Er geriet 1945 in Berlin in sowjetische Gefangenschaft. — In Asbest arbeiteten Bruno und ich gemeinsam auf einer Baustelle. Wir faßten Vertrauen zueinander und freundeten uns an. Bruno hatte bis zu dieser Zeit nichts von seinen Leuten daheim gehört. Und dabei versuchten wir alle nur erdenklichen Schliche und Finessen einzusetzen. So schrieb ich unter seinem Absender an meine Mutter und sprach sie als «Tante» an. Ein anderer übernahm Brunos Namen, um seiner «Schwester» zu schreiben. Doch alle Versuche blieben erfolglos. Unser Freund bekam weder Post, noch fand er seinen Namen auf der Liste, die den Glücklichen im Lager eine Paketsendung ankündigte. Traurigkeit und das bedrückende Gefühl des Verlassenseins überkamen den jungen Kameraden. Letzte Hoffnungen, Mutter und Geschwister wiederzufinden, schwanden dahin. Auch der gutgemeinte Trost von Leidensgenossen vermochte da nur wenig zu bewirken. Wußten wir doch nur zu gut: Das Schlimmste für einen Menschen, der jahrelang der Freiheit beraubt ist, sind nicht körperliche Entbehrungen, nicht die ständig spürbare Rechtlosigkeit und nicht die Demütigungen, denen er ausgesetzt ist. Wirklich schlimm ist das völlige Losgelöstsein des Gefangenen von den Menschen, zu denen er im sonstigen Leben gehört hat und mit denen er sich eng verbunden fühlte. Das zerrüttet die Seele, läßt das Gemüt erkranken.
Und dann — kurz vor Weihnachten — trat das Unglaubliche ein. Um diese Zeit kamen zwei Lkws ins Lager, hochbepackt mit Paketen aus der Heimat. Nie zuvor hatte uns ein derartiger Segen erreicht. Zum bevorstehenden Fest schickten nicht nur Angehörige, sondern auch Freunde, Betriebe, Schulklassen, Wohlfahrtsverbände, Heimatstädte und — gemeinden. Als ein paar Tage später die üblichen Listen aushingen, befand sich darauf auch der Name Bruno Plauschien. Bald darauf nahm der
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