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Weihnachtsgeschichten am Kamin 04

Weihnachtsgeschichten am Kamin 04

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 04 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Friedrichsen , Ursula Richter
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Traumdeutung eine andere. Beide Bräuche wurden bis heute von Generation zu Generation überliefert — obgleich wir eigentlich gar nicht mehr abergläubisch sind... und über die Horoskope in den Zeitungen nur noch schmunzeln... In diesem Sinne pflegten die alten Ostpreußen nach den Heiligen Nächten ihre nächsten Angehörigen mit einem Augenzwinkern zu fragen, ob sie etwas in den Zwölfen geträumt hätten. Einige gaben ihr Geheimnis preis, andere zogen es vor, zu schweigen. Ich gehöre zu den Menschen, die einmal einen Traum hatten, der tatsächlich in Erfüllung gegangen ist. Das Erlebnis liegt vier Jahrzehnte zurück.
    Wir schrieben das Jahr 1948. Ich befand mich damals in einem Hospital für Kriegsgefangene, das in einer ehemaligen Schule der Wolgadeutschen untergebracht war. An die frühere Nutzung des Gebäudes erinnerte noch eine Schülerbibliothek, deren Bücher wir Kranken gerne lasen. Von unseren Fenstern aus konnten wir auf den gewaltigen Strom schauen, den die Sowjets liebevoll «Mütterchen Rußland» nannten. Am Horizont befand sich die frühere Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik mit dem himmlisch klingenden Namen Engelsk. Die verschleppten Bewohner hatte ich zuvor in Sibirien getroffen, wo sie mit uns zusammen in bitterer Not lebten. Einige von ihnen haben uns heimlich geholfen, den Hunger zu stillen — manchmal war es auch nur ein aufmunterndes Wort, das wieder Hoffnung keimen ließ. An diese Menschen erinnere ich mich heute, wenn ich von ihrer Aussiedlung höre — ebenso an die Heiligen Nächte, die ich in ihrem alten Schulgebäude verbrachte.
    Auf dem Flur des Krankenhauses stand damals ein «geliehener» Christbaum — das heißt, das sowjetische Pflegepersonal hatte ihn beschafft, aber zunächst uns zur Verfügung gestellt; wir durften ihn schmücken und uns an Weihnachten um ihn versammeln. Anschließend übernahmen ihn die Russen für ihre eigene Feier, die nach dem gregorianischen Kalender einige Tage später stattfand.
    Jeder von uns hatte seine eigene Methode, mit den Gefühlen in dieser schweren Zeit fertig zu werden. Einige gedachten der furchtbar traurigen Weihnachtstage in Stalingrad..., viele erinnerten sich an die glückliche Zeit daheim im Kreise der Familie; ich pflegte mich möglichst früh ins Bett zu legen. Nach einem stillen Gebet zog ich die Decke über den Kopf und schaltete ab... Apropos Decke: Ich schlief unter der Last von vier Decken, denn von der Wolga her blies ein eiskalter Wind durch die Fensterritzen.
    Der zweite Feiertag ist mir besonders in Erinnerung geblieben, obgleich tagsüber eigentlich gar nichts Bemerkenswertes geschah. Merkwürdigerweise dachte ich vor dem Einschlafen ausgerechnet an ein Kamel, das ich gegen Abend in der recht eintönigen Winterlandschaft hatte beobachten können, wie es am Ufer entlanggeschritten war und einen winzig kleinen Schlitten mit einer vermummten Gestalt daraufhinter sich her gezogen hatte. Irgendwie erinnerte mich dieses märchenhaft anmutende Bild an das Heilige Land und die biblische Geschichte. Diesen Gedanken nachhängend, schlief ich ein.
    Gegen Mitternacht wachte ich fasziniert von einem wunderschönen Traum auf: Ich hatte von meiner Heimkehr geträumt. Was heißt geträumt — nein, ich hatte das, was ich so lange ersehnte, in allen Phasen erlebt...Jedes Detail stand mir noch vor Augen: der in den Bahnhof einfahrende Zug mit der dampfenden Lok davor, die Begrüßung der Eltern... erst die Mutter, dann den Vater, ich trug meine zerschlissene Uniform... und war überaus glücklich. Während ich über das Geträumte nachdachte, fiel mir spontan der alte ostpreußische Aberglaube mit den «Zwölf heiligen Nächten» ein. Sofort rechnete ich nach und kam auf den Monat März des kommenden Jahres, das hieß, wenn die Heiden recht haben sollten, würde ich in dem betreffenden Monat heimkehren...
    Doch was sich dann nach Neujahr ereignete, verdrängte die Erinnerung an den Traum; denn das Lazarett mußte plötzlich aus unerklärlichen Gründen aufgelöst und die Kranken auf die umhegenden Lager verteilt werden. Dann geschah ein Wunder: Eine ganz kleine Gruppe blieb übrig, die nach drei Monaten der Ungewißheit heimkehren durfte, und zu diesen Glücklichen gehörte ich. Damit wurde der Traum aus der Weihnachtszeit wirklich wahr.
    Abschließend muß ich bekennen, daß für mich der Aberglaube in den vergangenen Jahrzehnten keine Rolle gespielt hat. Aber vergessen habe ich das Ereignis auch nicht — ebenso nicht die

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