Weil du mich siehst
wundervolles Geschenk, wofür man dankbar sein und das man voll auskosten sollte. Man hat doch nur dieses eine.
♥
Eine Woche, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verkündete Paula Finn etwas.
Der sah sie besorgt an. »Möchtest du das wirklich tun? Bist du auch echt bereit dafür?«
Paula nickte. »Ja. Das bin ich.«
Am folgenden Dienstag, dem ersten im Dezember, fuhren sie gemeinsam zur Gruppentherapie.
»Paula«, sagte Johannes und nahm ihre Hände in seine. »Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht. Wir haben uns alle große Sorgen um dich gemacht.«
»Ich weiß.« Paula konnte sich denken, was die anderen befürchtet hatten – dass sie noch ein Gruppenmitglied verlieren könnten. »Und es tut mir sehr, sehr leid. Bitte verzeiht mir.« Dann stellte sie sich auf Zehenspitzen und flüsterte Johannes etwas ins Ohr, woraufhin er sie gerührt betrachtete.
»Ich habe etwas anzukündigen«, sagte er zehn Minuten später, als alle in der Runde saßen. »Unsere liebe Paula möchte uns heute ihre Geschichte erzählen.«
Klatschen, erstaunte Blicke und ermutigende Zurufe folgten. Damit hätte niemand gerechnet, als er heute hierherkam. Alle sahen Paula erwartungsvoll an, eine fast beängstigende Stille war eingekehrt.
Finn nahm Paulas Hand und drückte sie leicht, ermutigend.
»In meinem anderen Leben war ich glücklich verheiratet mit einem wundervollen Mann, Max, und Mutter eines fröhlichen kleinen Jungens namens Damian. Ich wurde wieder schwanger und wir alle freuten uns auf das Baby; unsere Freude wuchs noch, als wir erfuhren, dass es ein Mädchen werden sollte. Die Schwangerschaft verlief, im Gegensatz zur ersten, ohne Komplikationen, und im Juli 2011 kam Louisa zur Welt. Sie war das hübscheste kleine Mädchen, das man sich nur vorstellen kann. Ihre Haut war so zart und ihre Augen blau wie das Meer. Sie hatte schon bei der Geburt ganz volles Haar und sah aus wie ein Engel, wenn sie schlief ...«
Paula machte eine Pause, um tief durchzuatmen. Bis jetzt hatte sie ohne zu stocken erzählt, doch nun fiel es ihr sichtlich schwerer, denn das Schlimmste lag noch vor ihr. Finn streichelte mit dem Daumen ihren Handrücken. »Du schaffst das«, sagte er und alle sahen ihn verwundert an.
Finn war seit Paulas Zusammenbruch ebenfalls nicht bei der Therapie gewesen. Er sah die Blicke der anderen und wusste, dass sie ihn am liebsten alle sofort gefragt hätten, seit wann er denn wieder sprach, doch er wusste auch, dass sie Paula nicht unterbrechen wollten. Sie hatte es verdient, dass man ihr mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörte.
»Am dritten Tag nach der Geburt holte Max uns aus dem Krankenhaus ab«, fuhr Paula mit zitternder Stimme fort. »Damian hatte er zum Spielen bei einem Freund gelassen. Wir fuhren im Auto nach Hause und Louisa fing an zu weinen. Vielleicht machte ihr die Autofahrt Angst oder vielleicht spürte sie auch einfach, dass irgendetwas Schreckliches passieren würde …«
Wieder musste Paula kurz innehalten, ein paarmal tief ein- und ausatmen, bevor sie weitermachen konnte. Zum Glück sehe ich nicht ihre Gesichter , dachte sie und war zum ersten Mal froh, nicht sehen zu können. Jetzt in die Augen derer zu blicken, die den Schmerz so gut kannten, könnte sie nicht ertragen und würde womöglich kein weiteres Wort herausbekommen.
Sie musste kurz in sich gehen. Dass Finn an ihrer Seite war, war eine große Erleichterung. Sie wusste, würde sie in den nächsten Minuten zusammenbrechen, würde er da sein, um sie aufzufangen.
Während sie an die schlimmsten Momente ihres Lebens zurückdachte, erzählte sie weiter: »Ich griff nach hinten, um ihr den Schnuller in den Mund zu stecken, den, auf dem Beste Mama der Welt stand. Max hatte ihn uns am Tag zuvor ins Krankenhaus mitgebracht. Er war weiß mit rosa Schrift und einem kleinen Herzchen drauf.«
Paula wollte so tapfer sein, und doch fühlte sie die erste Träne ihre Wange hinunterrollen. Sie bemühte sich nicht, sie wegzuwischen, denn obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen, wusste sie jetzt, dass noch weitere Tränen folgen würden.
»Ich weiß nicht, was genau passierte, aber als ich mich wieder nach vorne drehte, kam der Laster schon auf uns zu … wir überschlugen uns und ich ... sah überall Blut. Ich griff nach hinten zu Louisa und schrie ihren Namen ...« Nur unter Schluchzen konnte sie das Nächste sagen: »Als wir endlich zum
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