Weil du mich siehst
auf dem Gewissen zu haben, hätte er nicht verkraftet.
Er war mit im Krankenwagen gefahren und hatte lange im Wartezimmer gesessen, bis sie ihn endlich zu ihr ließen. In der Zwischenzeit hatte er Sandra benachrichtigt, per SMS, denn er traute seiner Stimme noch nicht so richtig. Als er den Ärzten erzählte, was vorgefallen war, verhaspelte er sich immer wieder. Auch wenn man das Sprechen nicht verlernte, so war es doch nicht so leicht, nach beinahe viereinhalb Jahren einfach wieder so damit anzufangen. Es kostete ihn noch immer Überwindung, doch die Stimme war zurück, sie hatte wieder Klang.
Lächelnd saß Finn an Paulas Seite, froh darüber, dass sie überlebt hatte und froh darüber, wieder sprechen zu können. Zwischendurch verzog sich sein Lächeln zu einem besorgten Gesicht, wenn er nämlich darüber nachdachte, warum sie nur die ganzen Tabletten genommen hatte. Konnte es ein Versehen gewesen sein? Wenn er ehrlich war, wusste er, dass es nicht so war. Die Wahrheit war, dass Paula aufgegeben hatte. Sie hatte keinen Grund mehr gesehen weiterzumachen, nicht einmal er war Grund genug gewesen. Diese Einsicht machte ihn traurig.
Paula war noch nicht aufgewacht, als Sandra in der Tür stand. »Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend«, antwortete Finn.
Sandra sah ihn an, als hätte sie einen Geist gesehen. Als wäre sie nicht sicher, ob sie nicht halluzinierte, sagte sie: »Finn? Hast du etwa gerade mit mir gesprochen?«
Finn lächelte sie von seinem Platz aus an und nickte. »Dieser Vorfall hat irgendetwas in mir ausgelöst.«
Sandra stiegen Tränen in die Augen. Mit weit geöffneten Armen kam sie auf Finn zu. Der stand mit leichter Zurückhaltung auf und ließ sich von ihr umarmen.
»Das ist ganz wundervoll, Finn. Ich freue mich so für dich. Es ist schön, deine Stimme zu hören. Hat Paula sie schon ...«
»Nein«, Finn schüttelte den Kopf. »Sie ist noch nicht wieder aufgewacht.«
Sandra betrachtete ihre kleine Schwester traurig. »Was hat sie nur getan?«, fragte sie bedrückt und die Tränen bahnten sich einen Weg hinaus, an ihren Nasenflügeln entlang, bis sie auf ihren Lippen landeten.
Finn hatte keine Antwort und versuchte auch nicht, eine zu geben. Er wusste, wie Paula zumute war, als Dennis gestorben war, ihm ging es genauso, und er wusste, wie sie gefühlt haben musste, nachdem Damian ihr verkündet hatte, er wolle nicht zu ihr kommen. Eine Welt, die winzige, kleine Welt, die sie noch kannte, war zu Asche zerfallen und hatte nichts als Leere hinterlassen. Finn wusste, wie das war, aber es war beinahe unmöglich, das jemandem begreiflich zu machen, der es nicht wusste.
»Ich hoffe, es geht ihr bald besser. Jens kümmert sich um die Kinder, ich kann ein paar Tage bleiben.«
Die halbe Nacht saßen Sandra und Finn an Paulas Bett, jeder an einer Seite, und redeten. Finn sagte nicht viel, aber er erzählte ein wenig von Paula, Dinge, die ihre Schwester nicht kannte, wie Paulas Vorliebe für Hörbücher oder Laub, obwohl sie das nicht mehr sehen, doch aber fühlen und riechen konnte.
Er erzählte von seinem Geburtstag, an dem sie im Kino waren und von den Spaziergängen im Park. Sandra dagegen erzählte von ihrer Kindheit mit Paula, als Paula noch fröhlich war und unternehmungslustig, als sie noch tanzte und sang und lachte. Den Unfall erwähnte sie nicht.
Sie beiden hatten durch diese Gespräche das Gefühl, Paula wieder zurückzuholen, sie wieder lebendig zu machen. Jetzt lag es an ihr, ob sie wieder zu ihnen zurückfinden wollte.
♥
Eine der Krankenschwestern hatte Sandra und Finn irgendwann angeboten, in einem der freien Betten zu schlafen. Sandra hatte dankend angenommen, doch Finn wollte Paula nicht von der Seite weichen.
Irgendwann im Morgengrauen spürte er, dass sie sich rührte. Er war, den Kopf auf den verschränkten Armen, an ihrem Bett eingeschlafen. Nun sah er hoffnungsvoll auf. Paula war erwacht.
»Wo bin ich?«
Finn wollte gerade antworten, als sie fortfuhr: »Oh nein. Ich wollte doch bei ihnen sein ...« Sie sagte es so verzweifelt, dass alle Hoffnung, die Finn gehabt hatte, schwand.
Paula weinte. Sie befühlte alles um sich herum – die Bettdecke, das Krankenhaushemd, das ihr angezogen worden war, den Schlauch, der aus ihrem Arm kam und sie mit dem Tropf verband, der neben ihr stand. Erst dann nahm sie Finn wahr.
»Was tust du hier?«, fragte sie. »Geh weg!«
Finn sah
Weitere Kostenlose Bücher