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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Hülle war?
Mike war schlecht, aber er zwang sich hinzusehen. Er hatte das verschuldet.
Silas hatte dazu beigetragen, aber die Schuld gebührte ihm, Mike. Ohne ihn
hätten Mann und Frau vielleicht versucht, ihrem schrecklichen Verlust zum
Trotz, ein gemeinsames Leben nach Silas zu finden. Ohne ihn wäre es
wahrscheinlich gar nicht zu diesem schrecklichen Verlust gekommen.
    Mike bemerkte im oberen Fenster einen Schatten, der durch das
Schneetreiben nicht genauer erkennbar war. Ein Mann? Eine Frau? Mike konnte es
nicht sagen. Konnte er oder sie den Volvo erkennen? So weit vom Ort entfernt
gab es keine Straßenbeleuchtung, es fiel kein Licht auf seinen Wagen. Er
betrachtete den Schatten prüfend wie man einen Stern betrachtet, den man zu
identifizieren versucht. Je schärfer er hinsah, desto schwieriger wurde es, zu
erkennen, wer da im Fenster stand. Einmal zwinkerte er, und der Schatten schien
nicht mehr da zu sein. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts
erkennen. Schnee häufte sich außen auf dem Fensterrand des Volvos zu einer
Gebirgslandschaft eigener Art. In einer oder zwei Minuten würde Mike das Haus
vielleicht gar nicht mehr sehen können. In drei Minuten würde er aussteigen und
den Schnee wegfegen oder das Fenster herunterlassen müssen, um es vom Schnee zu
befreien.
    Ich bin gekommen, weil ich alles wiedergutmachen
möchte , wollte Mike rufen.
    Aber wer konnte den Verlust eines Sohnes wiedergutmachen?
    Viermal hatte Mike Owen Schaden zugefügt. Das erste Mal, als er ihm
mit der unkontrollierten Rutschpartie  über
sein Grundstück Zaun und Briefkasten niederriss. Das zweite Mal, als er Silas
nach Avery lockte, wo das auf dem Band festgehaltene Verhalten erst möglich
geworden war. Das dritte Mal, als er ihm die Frau stahl. Und schließlich, und
das war das Schlimmste, indem er eine Kette von Ereignissen auslöste, die Owen
am Ende seinen Sohn nahmen.
    Wie oft hatte Mike seit dem verhängnisvollen Augenblick, als Silas
die Treppe hinaufgelaufen war, mit Anna sprechen wollen. Er hatte nie wortgenau
im Kopf gehabt, was er sagen würde, aber irgendwie hatte er seinem Kummer,
seiner Verwirrung, seiner Gewissheit, dass er sie bei diesen kurzen Besuchen
mehr geliebt hatte als je einen anderen Menschen,  Ausdruck verleihen wollen. Er konnte sich
vorstellen, dass sie ihn anspucken oder ihm die Augen auskratzen würde. In
seiner Phantasie machte ihr Schmerz sie mächtig. Es fiel ihm leichter, sich
ihren Zorn vorzustellen, als sich ihres Gesichts zu erinnern, wenn sie zum Bett
gegangen waren. Und es erschien ihm wie eine Sünde, jetzt an diese Besuche zu denken.
Er dürfte sich ihrer gar nicht mit Zärtlichkeit erinnern. Alle Bilder müssten
aus seinem Geist verbannt sein.
    Unvermittelt fuhr Mike an und wendete den Wagen, geriet nur ein
klein wenig ins Rutschen dabei, und fuhr mit eingezogenem Kopf, nicht aus Angst
vor einem Unfall, sondern aus Feigheit, in den Ort zurück. Er hätte die Treppe
hinaufgehen und sich zu Owen setzen können. Anna wäre nicht heruntergekommen,
dessen war er sicher. Aber vielleicht hätte er in aller Aufrichtigkeit um
Verzeihung bitten und sein Bedauern zum Ausdruck bringen können. Hätte Owen das
etwas bedeutet? Wäre er wütend geworden? Oder war auch er unerträglich einsam?
    Mikes Hände am Lenkrad zitterten, während er auf  der immer schlechter werdenden Straße
weiterfuhr. Er schätzte, dass es noch einmal fünfzehn Zentimeter geschneit
hatte, seit er sich zum Abendessen ins Hotelrestaurant gesetzt hatte. Es gab
kein Anzeichen dafür, dass hier Streu- oder Räumfahrzeuge unterwegs gewesen
waren. Vielleicht wartete man aus Sparsamkeit, bis es zu schneien aufhörte, ehe
man sie hinausschickte.
    Als Mike zur Avery Academy kam, hielt er noch einmal an. Und diesmal
stieg er aus. Sofort versank er im Schnee. Er hatte keine Stiefel an und fühlte
das Eis unter dem Stoff seiner Hose. Er zog seine Handschuhe aus der
Manteltasche und ging zum abgesperrten Tor. Seine Mütze hatte er im Auto
gelassen. Der eisige Wind trieb ihm Schnee  ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen
spähte er durch das Tor, um zu sehen, ob er irgendwo Licht ausmachen konnte. Er
hoffte, er würde nicht irgendeine neu installierte Alarmanlage auslösen. Er
hoffte, er würde nicht gleich ein Dutzend Männer heranstürmen sehen.
    Mike trat von dem schmiedeeisernen Gitter weg und lehnte sich mit
dem Rücken an den steinernen Torpfosten. Wann war er errichtet worden? Er
wusste es nicht. Silas’ Tod lastete

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