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Weil wir glücklich waren - Roman

Weil wir glücklich waren - Roman

Titel: Weil wir glücklich waren - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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eine Nachricht auf meinem Handy hinterließ.
    Aber in diesem Jahr war es anders. Das erste Semester war fast vorbei, und schon war ich auf dem absteigenden Ast. Organische Chemie war das, womit ich schon im vergangenen Jahr gekämpft, Anorganische etwas, was ich kaum verstanden hatte - nur, dass jetzt auch noch sämtliche Diagramme in 3D waren. Zum ersten Mal kam es nicht mehr darauf an, wie viel ich lernte. Schon Anfang September ging ich zu meinem Tutor und bat um zusätzliche Hilfe. Aber als ich versuchte zu erklären, was ich nicht verstand, benutzte er das Wort »offensichtlich« sehr häufig und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an, als würde ich mir einen Spaß mit ihm erlauben. Als wäre ich ein kleines Kind, das vorgab, Chemie zu studieren - keine Zwanzigjährige konnte so beschränkt sein.
    »Du musst die Organische einfach hinter dich bringen«, sagte Gretchen. »Es ist eine Hürde, mehr nicht. Lass dich davon nicht fertigmachen.«
    Ich schob den Karton mit Chicken Satay über den Tisch und bot ihr ein Stück an. Wir saßen in der Halle des neunten Stockwerks und lernten. Die Tür zum Frauenflügel stand offen, damit Gretchen ihre Zimmertür sehen konnte. Sie war Betreuerin für das neunte Stockwerk und hatte einer Studentin aus Malaysia im ersten Semester versprochen, an diesem Abend bis zehn Uhr da zu sein, um ihr beim Lernen für die Führerscheinprüfung zu helfen. Gretchen war immer so nett und hilfsbereit. Sie hatte heute Abend nicht einmal Dienst: Ich war es, die das Walkie-Talkie dabeihatte. Es lag neben mir auf dem Tisch, und jedes Mal, wenn es klickte, machte ich die Augen zu und beschwor es zu schweigen. Bis jetzt schien es zu funktionieren.
    »Im Ernst«, sagte Gretchen. »Nichts von dem Mist, den wir hier lernen, hat etwas damit zu tun, Arzt zu sein.« Sie winkte ab, als ich ihr von dem Hühnchen anbot, und nahm noch einen Schluck Kaffee. Es war Mittwoch, neun Uhr abends, und sie hatte sich schon die zweite Tasse aus dem Automaten in der Eingangshalle geholt. In ihrer Lieblingskneipe war mittwochabends Ladies' Night - wenn wir fertig waren, wollte sie noch ausgehen. »Nach der Aufnahmeprüfung kannst du das alles vergessen«, sagte sie. »Mach's wie die Bulimikerinnen, okay? Gehirn vollstopfen, Test machen, entleeren. Das Ganze von vorne.«
    Ich versuchte, beruhigt auszusehen, damit sie aufhörte zu reden. Ich war froh, dass sie mit mir lernte, weil es wirklich ein Akt der Nächstenliebe von ihr war: Sie war im Buch schon ein Kapitel weiter als ich. Aber ich konnte nicht gleichzeitig reden und ihr zuhören. Das R/S-System hat kein festes Verhältnis zum D/L-System. Zum Beispiel enthält die Seitenkette eins von Serin eine Hydroxygruppe - OH. Ich schlug im Lexikon am Ende des Buches nach. Das war Englisch. Das war meine Muttersprache. Es gab keinen Grund, warum ich es nicht verstehen sollte. Mir war ein bisschen warm. Ich zog meinen Pullover aus und schaute wieder in das Buch. Gretchen machte sich Notizen und blätterte eine Seite weiter.
    »Können wir das noch mal durchgehen?« Ich beugte mich zu ihr vor. »Mir ist nicht einmal richtig klar, was ein chirales Molekül ist.«
    Sie nickte und trank von ihrem Kaffee. »Chirale sind keine große Sache«, sagte sie. »In diesem Buch klingt es bloß verwirrend. Sie sind so etwas wie Spiegelbilder.« Sie stellte ihre Tasse ab, presste ihre Hände aneinander und spreizte ihre kleinen Finger ab. »Weißt du, du musst dir bloß vorstellen können, wie das Molekül aussieht, und es dann umkippen. Als würdest du es im Spiegel sehen.« Sie lächelte und wackelte mit den Fingern. Ihre Fingernägel waren in hellem, glitzerndem Pink lackiert.
    Das war es, dachte ich. Das war es, was ich nicht konnte. Ich konnte Moleküle nicht im Kopf umdrehen. Schon bei der ersten Drehung fielen die Atome auseinander, und ich verlor den Überblick darüber, was und wo sie waren. Ich schaute wieder in mein Buch, damit Gretchen mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich wollte nicht, dass sie mich bemitleidete.
    »Und was machst du so am Wochenende?«
    »Das hier«, sagte ich. Ich blickte nicht auf.
    »Oh. Fein.« Sie versuchte, angenehm überrascht zu klingen. »Wenn du sowieso hier bist ... kannst du am Samstag für mich einspringen? Ich tausche dafür jeden Wochentag mit dir, den du willst.«
    »Geht nicht«, erwiderte ich.
    Ich konnte fühlen, wie sie mich anschaute und wartete. Sonst sprang ich immer für sie ein, wenn sie mich darum bat.
    »Ich mache

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