Weine ruhig
zahlreiche jüdische Frauen in dem Gefängnis vergewaltigt worden waren.
Vater, dem in jeder Lebenslage etwas einfiel, hatte in diesen Tagen einmal mehr eine revolutionäre Idee. Sie klang naiv, sogar verrückt: Er dachte an Flucht!
Am Abend des 22. Dezember, als ich von der Arbeit zurückkehrte, fragte Vater mich über die Türklinken der Büros aus. Ließen sie sich entfernen? Ja, ich hatte bemerkt, dass einige Klinken locker waren. Vater versuchte, mich zu überreden, eine dieser Klinken abzuziehen und mitzunehmen. Ich könnte sie in meiner Unterwäsche verstecken.
Wofür brauchte Vater eine Türklinke?
Dann erzählte Vater uns von seinem kühnen Plan. Der Heilige Abend in zwei Tagen wäre die beste Zeit zum Handeln. Die meisten Wachleute würden den Abend bei ihren Familien verbringen. Nur wenige von ihnen würden Dienst haben. Niemand würde auf die Idee kommen, in den Keller zu gehen, da sie alle damit beschäftigt wären, sich vollzustopfen und volllaufen zu lassen. In der Zeit würden wir mit Hilfe der Klinke die Tür zum Kohlenkeller öffnen, dann über den Kohlenberg klettern und durch die enge Öffnung auf die Straße schlüpfen.
Wir fanden die Idee verrückt und hielten den Plan für nicht durchführbar. Die Öffnung war nur etwa fünfzig Zentimeter breit, und wir würden kaum durchpassen. Und selbst wenn wir es irgendwie schafften hinauszukrabbeln - die Straße würde voller Menschen sein. Wie sollten wir da unbemerkt bleiben? Josef hatte uns erzählt, dass es bisher noch niemandem gelungen sei, aus dem Gebäude zu fliehen. Aber Vater glaubte, dass am Heiligen Abend, diesem Fest der Familie, an dem alle zu Hause waren und glücklich und zufrieden zu Tisch saßen, nachdem sie die Christmette besucht hatten, die Straßen menschenleer sein würden. Der Erste, der durch die Öffnung gekrabbelt wäre, würde den Nachfolgenden ein Zeichen geben, wenn die Luft rein war, und dann über die Straße rennen und sich in einem der Güterwagons verstecken, die genau gegenüber standen. Wenn wir dann alle draußen wären, würden wir unsere Bündel schultern (einschließlich der Steppdecke, die weitaus mehr wert war als ihr Gewicht in Gold) und ohne Eile losziehen, um keinen Verdacht zu erregen. Wir würden nach Jarok zurückgehen, wo wir uns wieder in den Löchern verstecken könnten. Der Krieg tobte noch heftiger als zuvor, die Flugzeuge der Alliierten bombardierten die Stadt. Viele Menschen flohen mit ihrer Habe in die Dörfer der Umgebung, in denen es sicherer war. Wir würden also keinen Verdacht erregen, wenn wir mit unserem wenigen Gepäck zu Fuß die Stadt verließen.
Wir hatten weiterhin Einwände und Zweifel, schlössen uns aber nach längerer Diskussion Vaters Meinung an und glaubten schließlich fest daran, so wie er, dass die Flucht gelingen würde. Selbstverständlich weihten wir Josef und die andere Familie in das Geheimnis ein. Wenn sie nicht mitkämen, würde man sie stellvertretend für uns bestrafen.
Aber eine wesentliche Voraussetzung für die Flucht musste erst noch geschaffen werden. Würde ich unbemerkt eine Türklinke stehlen können? Ich hatte große Angst und fürchtete ganz besonders, dass der Mann, der versucht hatte, mich zu vergewaltigen, wiederkommen und mich anfassen und die versteckte Türklinke unter meiner Kleidung fühlen würde. Aber ich sagte nichts, denn wenn ich den anderen von meinen Befürchtungen erzählt hätte, wäre der Plan sofort fallen gelassen worden, nur um mich zu schützen.
Nur mit Ronny sprach ich darüber. Er verstand meine Bedenken. Auch er hatte ein Problem: An diesem Tag war ihm bei der Arbeit im Kohlenkeller ein voller Kohlenkasten auf den Fuß gefallen. Zwei seiner Zehen waren gequetscht worden. Jetzt waren sie blau angeschwollen und taten sehr weh. Er krümmte sich vor Schmerzen und flüsterte mir zu: »Selbst wenn wir fliehen könnten - wie soll ich mit diesem wunden Fuß den weiten Weg nach Jarok schaffen?«
Mir fiel nichts ein, um ihn aufzumuntern. Ich dachte die ganze Zeit nur an meine Mission.
In der Nacht tat ich kaum ein Auge zu. War ich stark genug für diesen Job? Ich bin sicher, dass ich nicht die Einzige war, die von dieser Frage gequält wurde. Alle anderen müssen das Gleiche gedacht und die gleichen Zweifel gehegt haben.
Der Morgen des 23. Dezember kam. Der Wachmann, der mich abholte, kündigte mir an, dass ich an diesem Tag nochmals putzen müsse, am nächsten Tag aber, am Heiligen Abend, bei den anderen im Keller bleiben dürfe. Er
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