Weinen in der Dunkelheit
wir uns toll. Wir redeten über Farbmischungen und alberten viel miteinander herum. Besonders bewunderten wir alle die Karikaturen, die er von den Erziehern anfertigte. Sie trafen die Gesichter der Pädagogen bis ins kleinste Detail, und wir amüsierten uns köstlich darüber.
Aus diesem Grund forderte sein Erzieher, der sich beleidigt und in seiner Person angegriffen fühlte, seine Einweisung in den Jugendwerkhof. In unseren Augen war es Psycho-Terror der Erzieher, da man neuerdings für jedes kleinste Vergehen sofort in den Jugendwerkhof eingewiesen werden konnte. Wir waren über den Beschluß so aufgebracht, daß wir gemeinsam mit den älteren Schülern einen Versuch wagten: Wir bestanden auf einer Heimvollversammlung. Zum ersten Mal sollte darüber abgestimmt werden, ob ein Schüler im Heim bleiben oder in den Jugendwerkhof abgeschoben werden sollte.
Die meisten Schüler, die Wolfgang nicht kannten, trauten sich jedoch nicht, gegen die Erzieher und Lehrer zu stimmen. Wir verloren die Abstimmung, unsere letzte Hoffnung und Wolfgang. Gegen den Beschluß der Erwachsenen waren wir machtlos. Am Abend saßen wir auf den Stufen im Treppenhaus und versuchten, unseren Dicken zu trösten. Er weinte wie ein kleines Kind und tat mir leid. Wir waren empört über die Ungerechtigkeit der Pädagogen. Wolfgang war nicht frecher als wir; nur weil ihn ein Erzieher nicht leiden konnte, nutzte dieser seine Macht über Wolfgang und dessen weiteres Schicksal aus. Mir tat seine Abschiebung besonders weh. Für mich war er fast wie ein Bruder, da ich ihn seit meinen ersten Heimtagen kannte. Alle versprachen, ihm zu schreiben, nur müßte er es zuerst tun, da wir seine neue Adresse nicht kannten.
Als Wolfgang weg war, fehlte er uns sehr. Wie groß war die Freude über seinen ersten Brief an mich. Er schrieb:
Alle Briefe, die ich schreibe und bekomme, werden gelesen. Überleg Dir also Deine Antwort gut. Ich bin jetzt im Erzgebirge und nur mit Jungs zusammen. Die Umgebung gefällt mir, nur leider haben alle Fenster Gitterstäbe. Die Erzieher sind nett, aber streng. Ich male auch noch. Nach Euch habe ich oft Heimweh.
Wir waren über den Brief sehr traurig und weinten. Ich antwortete Wolfgang, wir hätten seinetwegen geweint, weil er uns mit seinem Humor sehr fehle, und wir haßten alle Erzieher. »Nur weil wir keine Eltern haben, können sie mit uns machen, was sie wollen.« Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört, trotzdem habe ich ihn nicht vergessen.
Wo ist meine Schwester?
Irgendwann faßte ich den Entschluß, zur Fürsorgerin zu gehen und nach meinen Eltern zu fragen. Frau Acker wunderte sich nicht über meinen Wunsch. Sie sagte, ohne in meine Akte zu sehen:
»über deine Mutter weiß ich nichts. Vielleicht lebt sie schon in Australien.«
Dann fielen mir die Worte der Kinderschwester ein, die mich immer an meine Schwester erinnert hatte. Ich fragte:
»Habe ich noch eine Schwester?«
Frau Acker lachte und sagte:
»Aber Kind, wie kommst du denn auf so eine Idee?« »Doch«, erwiderte ich trotzig, »ich habe eine Schwester, ich weiß es ganz genau. Als ich noch klein war, hat mich eine Kinderschwester immer auf den Schoß genommen und mir erzählt, daß ich noch eine Schwester habe. Vielleicht wollte sie, daß ich mich später daran erinnere.«
Sie ging zum Aktenschrank und sagte:
»Dann weißt du mehr als ich.«
Nachdem sie eine Weile in meiner Akte gelesen hatte, hob sie erstaunt ihre Augen, schaute mich an, blickte wieder in die Akte und sagte:
»Ja, du hast eine Schwester, aber wo sie lebt, weiß ich nicht.«
Stolz über meinen Erfolg rannte ich in meine Gruppe und erzählte den Mädchen diese Neuigkeit. Obwohl ich meine Schwester nicht kannte und sie nicht da war, fühlte ich mich nicht mehr allein. Irgendwo in Berlin lebten zwei Menschen, die zu mir gehörten: ein Bruder und eine Schwester.
Meine Bemühungen, von der Fürsorgerin den Aufenthaltsort meiner Schwester zu erfahren, hatten keinen Erfolg. Wenn ich achtzehn Jahre alt bin, nahm ich mir vor, suche ich weiter nach ihr und meiner Mutter.
Was soll ich werden?
Bald hörten wir von unserer Erzieherin, daß wir uns über unseren zukünftigen Beruf Gedanken machen sollten. Aber mir schien der Tag meiner Heimentlassung noch weit weg, und ich wußte wirklich nicht, was ich werden wollte.
Der Termin unserer Bewerbung näherte sich; mir ging es einfach nicht in den Kopf, daß ich mit meinen fünfzehn Jahren schon genau wissen mußte, was ich mein Leben lang arbeiten
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