Weinen in der Dunkelheit
auf dem Rücken verschränkt, sagte ich:
»Nein, danke!«
Erstaunt fragte er:
»Aber wieso denn, stehst du nicht auf die Beatles?«
»Doch, aber wir dürfen hier so was nicht haben.«
In diesem Moment haßte ich ihn, weil er mich in eine schwierige Situation gebracht hatte. Ungestraft würde ich dieses Büro nicht verlassen. Seine wasserblauen Augen blickten ungläubig auf die Pädagogen, und er wunderte sich.
»Aber wieso denn, es ist doch nur eine Postkarte.«
Die Erzieher lauerten jetzt mit gespanntem Gesichtsausdruck auf meine Antwort. Ich fühlte mich wie die Beute zwischen drei Füchsen.
Warum tut sich die Erde nicht auf und läßt mich verschwinden? dachte ich. Jeder Westkontakt war uns verboten, und nun kommt er hierher und bringt noch diese bunte Karte mit. Plötzlich sagte die Hausleiterin freundlich zu mir:
»Nimm die Karte und verabschiede dich!«
Froh, so davonzukommen, nahm ich sie, sagte erleichtert »Tschüs« und lief aus dem Verhörzimmer. Carsten war natürlich der erste, dem ich die Karte zeigte. Begeistert rief er:
»Mensch, hast du ein Glück, der Typ ist in dich verknallt.«
Daran hatte ich nie gedacht. Carsten lachte:
»Ha, weißt du, der fährt doch nicht aus Westdeutschland bis in den roten Osten, nur um dir eine Karte zu schenken; das macht die Post auch.«
Wie ein kleines Mädchen fing ich an zu heulen und sagte:
»Bestimmt kann ich wegen dem noch was erleben. Hier, du kannst sie behalten, ich will sie nicht mehr.«Nach einer halben Stunde stand ich wieder im Büro und hörte mir eine Standpauke über den Feind im Westen an. Der Vortrag endete mit einem Versprechen von mir, nie wieder die Adresse mit einem Westler zu tauschen. Weder im Ferienlager und schon gar nicht im Pionier- oder FDJ-Lager. Auch nicht, wenn die Westler Gäste unseres Landes seien.
Während der Standpauke sagte ich kein einziges Wort sondern nickte nur schuldbewußt mit dem Kopf. Das schien ihnen zu gefallen, und sie entließen mich mit den Worten:
»Wir hoffen doch, daß wir uns auf dich verlassen können.«
Die Karte wurde nun im Heim getauscht, verschachert oder verkauft; wo sie zuletzt geblieben ist, weiß ich nicht. Die Erzieher haben sie nie gefunden.
Jugendwerkhof
Der Sommer war eine verrückte Zeit. Ständig kamen neue Jungs ins Heim. Sie trugen Parkas, Jeans und lange Haare. Unsere Jungs freundeten sich zum Leidwesen der Erzieher viel zu schnell mit ihnen an. Aufgrund ihres schlechten Benehmens gegenüber den Erziehern verschwanden sie fast genauso schnell, wie sie gekommen waren, nämlich in den Jugendwerkhof. Das ist ein Heim für schwererziehbare Kinder. Mein Bruder schloß sich auch ihnen an und wollte bei seinen Freunden bleiben. Deshalb klaute er mit einem Kumpel Milchflaschen und warf sie mit Schwung in die Container. Das laute Scheppern war für jeden Passanten, besonders in der Nacht, weithin zu hören. Die Polizei hatte es leicht, die Diebe des volkseigenen Gutes zu fangen. Die Nacht verbrachte mein Bruder im Gefängnis. Am nächsten Tag wußten es alle Kinder im Heim. Uns wurde jede Unterhaltung mit den Dieben verboten, auch auf dem Schulhof durften wir nicht zusammen gesehen werden. Als seine Schwester ließen mich die Jungs in ihren Kreis, und mein Bruder erzählte mir, daß er jetzt auch in den Jugendwerkhof käme. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte nicht wieder allein sein! Ich hatte Angst um ihn, denn ich wußte, wer einmal aus Berlin weg ist, kommt nie wieder zurück. Für Berlin brauchte man eine Aufenthaltsgenehmigung, und die bekam keiner aus dem Werkhof oder Knast. Das wußten wir alle. Die Pflegeeltern meines Bruders wurden benachrichtigt, und nun merkte er zum ersten Mal, wie gerne sie ihn hatten. Sie kämpften bei den Behörden um ihn und erreichten, daß er nicht in den Jugendwerkhof kam, sondern für immer zu ihnen nach Hause.
Als er mit seinen Sachen das Heim für immer verließ, lief ich traurig bis zum Tor mit. Dort versprach er mir:
»So oft es geht, werde ich dich besuchen. Kopf hoch, Hexe, laß dich nicht unterkriegen, wir schaffen es schon!«
Er nannte mich als einziger liebevoll »Hexe«. Das wußte keiner im Heim.
Im Zeichenunterricht saß ich neben Wolfgang. Er war ein lustiger Dicker, mit strahlendblauen Augen, dunklen Locken und einem dermaßen herzhaften Lachen, daß er alle damit ansteckte. Noch etwas gefiel mir an ihm: Er konnte irre gut malen, und ich bewunderte sein Talent. In meiner Freizeit malte ich auch oft, und schon deswegen verstanden
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