Weinrache
verlangen. Eine Idee, die Arthur zweifellos gefallen würde. Er liebte kriminelle Fantasien. Aber Ideen waren das eine, Taten das andere.
Norma hatte das eiskalte Päckchen in den Gefrierschrank zurückgelegt und sich danach in den Zimmern umgesehen. Auf ihr fotografisches Gedächtnis konnte sie sich verlassen. Im Bad und im Schlafzimmer war alles unverändert. Die Lage des Handtuchs, nachlässig auf den Rand der Badewanne geworfen. Die halb geöffnete Tür des Schränkchens. Die Jeans auf dem Stuhl vor dem Fenster und ein weißes Hemd über dem Wäschekorb. All das entsprach dem Zustand der Wohnung, in der sie am Freitagabend die Reisetasche packte. Arthur brauchte immer jemanden, der ihm seine Sachen hinterher räumte. Als unbestechliche Stütze ihres Erinnerungsvermögens erwies sich ein Abdruck im ungemachten Bett; genau dort, wohin sie die Reisetasche gestellt hatte. In dieser Wohnung hatte sich seit dem vergangenen Freitag niemand länger aufgehalten.
Lutz war ihr ins Schlafzimmer gefolgt.
Norma musste sich einen Stoß geben. »Ich sollte dir etwas erzählen. In der Nacht zum Samstag hatte ich einen Streit mit Arthur. Und wie es aussieht, war er danach nicht mehr hier.«
Lutz hörte mit steigender Unruhe zu und sparte, als sie zum Ende kam, nicht mit Vorwürfen. Wie habe sie Arthur mitten im Wald aussetzen können! Wie einen Hund! Er war sehr aufgebracht, und sie ließ ihn reden. Allmählich beruhigte er sich und meinte schließlich einlenkend, er wisse aus eigener Erfahrung, wie stur Arthur sich gebärden könne. Womöglich sei ihm noch in der Nacht etwas zugestoßen! Jetzt müssten die Behörden die Sorgen eines Vaters ernst nehmen, verlangte er.
Norma versprach, sich darum zu kümmern, und machte sich sofort auf den Weg zum Polizeipräsidium. Die Vermisstenanzeigen gehörten zum Aufgabenbereich des Kriminalhauptkommissars Gerhard Weimer, der kürzlich von Kassel nach Wiesbaden versetzt worden war. Norma kannte ihn nicht. Er dagegen schien über ihren beruflichen Werdegang informiert zu sein und sparte nicht mit der Arroganz des Erfolgreichen. Er machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen-über Privaten Ermittlern im Allgemeinen und Privaten Ermittlerinnen im Besonderen. Sie riss sich zusammen und schluckte den Ärger herunter, während sie ihre Aussage machte.
Er betrachtete sie mit geringschätzigem Blick. »Wer war der Mann, der Ihnen mit dem Wagen geholfen hat?«
Sie habe ihn nicht nach dem Namen gefragt, erklärte Norma.
Die ausweichende Antwort trug ihr ein missbilligendes Feixen ein. »Ich kenne die Reflexe. Ein Polizist kann gar nicht anders, als sich in besonderen Situationen die Nummernschilder zu merken. Das sollte sogar für eine gescheiterte Polizistin gelten. Also?«
Mein jetziger Reflex, dachte Norma bissig, ist, dich auflaufen zu lassen, du selbstgerechter Bulle.
Später lief sie beinahe Wolfert und Milano in die Arme; eine vergleichsweise erfreuliche Begegnung nach dem vorherigen Gespräch. Die ungleichen Zwillinge luden Norma in ihr Büro ein. Wolfert machte auf dem Absatz kehrt, um für alle drei Kaffee zu holen. Die Polizisten sprachen offen über den Stand der Ermittlungen im Mordfall Fischer. Die Fahndung nach dem Mönch hatte zu keiner verwertbaren Spur geführt. Nicht einmal das Projektil aus Fischers Brustkorb brachte die Ermittlungen voran. Die Vergleichsanalyse habe bisher nichts ergeben, aber die Kollegen vom BKA seien dran, berichtete Milano.
»Welches Fabrikat vermutet Ihr bei der Waffe?«, fragte Norma.
Wolfert meldete sich zu Wort. »Wir gehen von einem osteuropäischen Modell aus. Sehr selten bei uns, aber …«
»… mit tödlicher Wirkung«, vollendete Milano den Satz.
Norma erfuhr zwar nicht viel mehr, als sie aus der Presse wusste, aber nach dem Gespräch mit Weimer tat es gut, mit den früheren Kollegen auf Augenhöhe zu reden. Als sie nach Arthur fragten, mischte sich in das Mitgefühl eine gute Portion kriminalistische Neugier. Sie waren, wie zu erwarten, vor allem an Arthurs Verhältnis zu Moritz Fischer interessiert, fragten aber ebenso nach Einzelheiten jener Nacht. Der unbekannte Autofahrer schien sie, anders als Weimer, nicht besonders zu kümmern.
Mit ihren Gedanken bei diesem Gespräch, rollte Norma die Yogamatte zusammen und ging hinunter ins Büro. Das Buch nahm sie mit, falls sie auf Ilka Schuhmanns Mail warten musste, doch die Post war bereits eingetroffen. Die umfangreichen Unterlagen erschienen ihr, zumindest beim flüchtigen Durchsehen,
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