Weinzirl 02 - Funkensonntag
Ein
langes Schweigen entstand. Plötzlich fiel Gerhard dieser Satz ein: »Welches
Wort du sprichst, du dankst dem Verderben.«
»Und dann?«, fragte Gerhard schließlich.
»Quirin, Steffen und ich haben in der Zeit viel zu dritt
unternommen. Ich habe geglaubt, dass Quirin wieder etwas auf die Beine kommt.
Heute weiß ich, dass Quirin einmal mehr gespielt hat, mir, seiner feinen Göttin
– so nennt er mich noch immer –, etwas vorgespielt hat. Aber das Leben ging
weiter, Steffen studierte in München und hat am Wochenende seine Bergsteigerei
fast schon wie eine Religion betrieben. Für mich war da wenig Platz. Aber ich
hatte selbst wenig Zeit, weil ich ein wirklich gutes Abi machen wollte.«
»Und dann kam die Lawine?«, fragte Gerhard, und das Gefühl des
Unwohlsseins in ihm verstärkte sich.
Sie drehte ihre Locken zusammen und ließ die Hand dann wieder
sinken.
»Ich wusste von Steffens Tourenkurs, ich war zu Hause und hatte
gelernt. Steffen wollte am Nachmittag vorbeikommen und mich abholen. Als er um
achtzehn Uhr immer noch nicht da war, habe ich auf seinem Handy angerufen. Das
war aus. Um zwanzig Uhr hab ich bei seinen Eltern angerufen, da ging keiner
dran. Und als es da so endlos durchgeklingelt hat, wurde ich panisch. Ich
wusste, es ist was passiert. Ich kann gar nicht sagen warum. Es war keine
Ahnung, es war Gewissheit. Ich habe überlegt, wen ich noch anrufen könnte. Mir
war total schlecht, und dann ging das Telefon. Es war Steffens Mutter. Ich
solle mich nicht aufregen, es wäre alles gut gegangen. Es wäre ein Wunder. Es
hat eine Weile gedauert, bis ich wusste, dass Steffen lebend aus einer Lawine
geborgen und nach Kempten ins Klinikum geflogen worden ist. Ich bin losgerast.
Mit hundertfünfzig durch Waltenhofen und über den Ring. Trotzdem war es die
längste Autofahrt meines Lebens. Steffen war so blass, aber er lebte. Sie haben
ihn drei Tage dabehalten. Am zweiten Tag konnte ich endlich mal allein mit ihm
sein.«
»Und wie war er? Konnte er überhaupt darüber reden? Es muss doch
unvorstellbar grausam sein, in einer Lawine gefangen zu sein?«
Irene nickte. »Unvorstellbar und wohl auch ganz anders, als wir uns
das vorstellen. Er hat erzählt, dass sein Leben wie ein Film vor ihm abgelaufen
wäre. Wie in der dritten Person sprach er von sich, und es muss wohl auch so
gewesen sein, dass er von weit außerhalb auf die Szene herabgeblickt hat. Er
sprach von einem sanften Gefühl, als er in die Ohnmacht geglitten war. Er
sagte, es wäre eine neue Dimension gewesen, die sich ihm geöffnet habe. Ein
zweites Leben. Er wollte plötzlich unbedingt mit mir zusammenziehen, und ich
war natürlich selig.«
»Und Sie sind nach München zu ihm?«
»Ja, nach dem Abi. Ich wollte dann im Wintersemester Volkskunde
anfangen und hatte vorher einen Praktikumsplatz im Bayerischen Nationalmuseum
ergattert. Ich gebe es gern zu: Ich war der Lawine fast dankbar. Anfangs lief
es super. Es war, als habe es die Lawine nie gegeben. Steffen hat das alles
toll weggesteckt. Im Winter darauf ist er wieder Skitouren gegangen. Zusammen
mit Heini Pfefferle. Der hat ihn behutsam aufgebaut. Ich hatte eine
Scheißangst. Und da hatte Steffen die Idee, einmal im Jahr des Unfalls zu
gedenken. Ich fand ihn extrem tapfer, denn er ging auch seine Retter besuchen.
Ich war mit dabei, als er diese Lawinenhündin Asta zum ersten Mal wiedergesehen
hat. Sie hat ihm übers Gesicht geleckt.«
»Ja, aber das hört sich doch alles sehr positiv an?« Gerhard sah sie
mitfühlend und aufmunternd zugleich an.
»Ja, den Eindruck hatte ich auch. Ich habe geheult, als ich ihn
beobachtet habe, wie er mit Asta gespielt hat. Wir waren im nächsten Winter
wieder da. Die Lawine war sehr präsent, weil immer noch der Prozess gelaufen
ist und die Zeitungen voll davon waren. Und da stand auf einmal Adi Feneberg
da, einfach so. Auf einmal stand er in der Rettungsleitstelle. Mich hat er
gerade mal mit einem Nicken ohne Namensnennung begrüßt. Keine Frage, wie es mir
geht, wie es Quirin geht, wie es Ma geht! Und dann begann er zu reden. Darüber,
wie schwer er betroffen sei. Darüber, dass er als Leiter der Kommission nicht
anders hätte handeln können, dass er die Entscheidung heute genauso wieder
getroffen hätte. Immer über sich. Wie er nächtelang nicht geschlafen habe. Er,
er, er! Er hat kein einziges Mal gefragt, wie es Steffen geht. Und dann kam der
Hammer. Er sagte zu Heini, dass seine Routenwahl falsch gewesen wäre. Aber im
Prozess hätte er
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