Weiskerns Nachlass
dass sie sich einen Kampf liefern, ein Wortgefecht, an dem beide ihr Vergnügen haben.
»Unsere Forderung entspricht absolut der Gesetzeslage. Sie wollen mich doch nicht dazu anstiften, gegen Gesetze zu verstoßen?«
»Um Himmels willen, Herr Kerzer, nicht im Traum würde ich daran denken. Ich versuche lediglich, das Terrain zu beschreiben, in dem sich Herr Stolzenburg bewegt. Und eine private Insolvenz ist eine Option, vom Gesetzgeber als Ultima Ratio zugelassen. Ultima Ratio Pauperi, so haben wir das gelernt. Und Herr Stolzenburg muss nach den letzten Mitteln greifen. Er wird einigen Schreibkram und lästige Termine haben, doch wann das Finanzamt Geld sehen wird und wie viel, das steht in den Sternen. Da wäre doch eine Ratenzahlung von zwanzig Euro geradezu opulent.«
Der Finanzbeamte erwidert nichts. Er schaut auf seine Armbanduhr, dann sieht er schweigend Gaede an. Es vergehen Sekunden, in denen keiner etwas sagt, und Stolzenburg betrachtet die zwei Männer fasziniert. Für Momente vergisst er, dass es um ihn geht, um das Geld, das er zahlen soll. Er sieht vielmehr einem Match zu, dessen Regeln ihm unbekannt sind, von dem er allerdings weiß, dass keiner der Kontrahenten nachgeben wird, sondern alle zulässigen Mittel anwendet, um zu gewinnen.
Nach einer längeren Pause sagt der Beamte: »Ich will sehen, was ich tun kann. Versprechen kann ich Ihnen nichts.«
Er wendet sich dabei Gaede zu, der ihn im Moment seines Triumphes dankbar und fast unterwürfig ansieht.
Kerzer sieht Stolzenburg an und fragt ihn eindringlich: »Gibt es irgendwelche Einkünfte, und seien sie noch so gering, die Sie nicht angegeben haben? Mieteinkünfte, Renten, Stipendien, Bankzinsen, Nachzahlungen?«
Stolzenburg schüttelt den Kopf: »Nein, es gibt nichts anderes, leider.«
»Gut. Ich denke, Sie bekommen innerhalb der nächsten sechs Wochen einen Bescheid von uns. Der gegenwärtige Zahlungstermin ist damit aufgehoben. In dem neuen Bescheid wird er gegebenenfalls neu festgesetzt. Ich mache mir eine Gesprächsnotiz, und Sie bekommen die Stundung in den nächsten drei Tagen schriftlich, damit alles seine Ordnung hat.«
»Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Wir sind schließlich keine Blutsauger.«
Er steht auf und reicht Stolzenburg die Hand. Als er sich von Gaede verabschiedet, lächelt er.
Im Flur stößt Klemens Gaede zweimal energisch und heftig die rechte Faust in die Luft und strahlt Stolzenburg an.
»Wir waren nicht schlecht«, sagt er, »wir können zufrieden sein. Rufen Sie mich an, sobald Sie den Bescheid in Händen halten. Es interessiert mich, wie weit man gehen, was man in diesen heiligen Hallen erreichen kann.«
»Danke, Herr Gaede.«
»Nein, nein, danken Sie mir nicht, es ist noch zu früh. Heute, das war ein Etappensieg. Das hohe Amt entscheidet allein, wer den Kampf gewinnt. Das müssen wir abwarten. Aber ich bin hoffnungsvoll. Ich glaube, wir haben ihn geknackt, den Herrn Kerzer.«
»Sie. Sie haben es geschafft.«
»Zu irgendetwas müssen die zwei Jahre Studium ja gut sein.«
Als sie bei Gaedes Wohnung ankommen und aus dem Auto steigen, bedankt sich Stolzenburg nochmals.
Gaede schüttelt den Kopf und schaut ihn neugierig und ein wenig belustigt an: »Ich verstehe Sie nicht. Ich verstehe Leute wie Sie und Marion nicht. Warum machen Sie beide das, was Sie machen, wenn es keiner bezahlen will?«
»Es macht mir Spaß, und meine Arbeit erscheint mir sinnvoll, gibt meinem Leben einen Sinn, um es pathetisch auszudrücken. Ich würde gern mehr Geld verdienen, aber ich würde nie arbeiten, nur um Geld zu verdienen. Das wäre für mich die schiere Vergeudung von Lebenszeit. Aber da bleiben wir beide uns wohl rätselhaft.«
Gaede nickt und lacht auf: »Ich hoffe, ich habe Ihnen geholfen. Und grüßen Sie Marion.«
Acht
Drei Tage später erhält Stolzenburg eine Mitteilung des Finanzamtes, dass die ergangene Forderung nach seinem Einspruch erneut geprüft werde und er zum frühestmöglichen Zeitpunkt das Ergebnis zugestellt bekomme. Bis zu diesem Bescheid sei die alte Forderung vorübergehend außer Kraft.
Er fühlt sich erleichtert, und als er seinen Rucksack für das Seminar packt, steckt er auch den Brief ein, um ihn im Institut Marion zu zeigen. Er sitzt schon auf dem Rad, da bemerkt er, dass er den ungeliebten Fahrradhelm in der Wohnung vergessen hat. Ein gutes Zeichen, sagt er sich, es geht wieder aufwärts, und ich muss mich nicht unentwegt absichern.
Sein erstes Ziel im Institut ist die Bibliothek. Marion
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