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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Topographen in Wien. Er bringt nichts ein, er kostet nur. Und so etwas ist für das Gremium Schmetterlingskunde, herausgeworfenes Geld. Wir sind nicht vermarktbar, mein Weiskern und ich.«
    »Das sind wir hier alle nicht. Unser ganzes Institut.«
    »Ja, und das wird uns noch eines Tages auf die Füße fallen.«
    Marion lacht auf: »Eines Tages? Das liegt uns doch schon längst auf den Füßen. Frieder hat nur noch damit zu tun, Kürzungen und Einsparungen abzuwehren.«
    Stolzenburg steht noch immer am Fenster und schaut in den gleichmäßig grauen Himmel, in einen Himmel von einem so unterschiedslosen, einförmigen Grau, als habe ein Maler eine Leinwand grundiert oder ein Anstreicher eine riesige Wandfläche getüncht. Er steht und starrt und schweigt so lange, dass Marion ihn besorgt fragt: »Alles in Ordnung?«
    Er wendet sich zu ihr und blickt sie irritiert an, er hatte nicht zugehört.
    »Alles in Ordnung?«, wiederholt sie.
    Er nickt.
    »Vielleicht solltest du deinen Weiskern aufgeben und dich mit einem Leuchtturm beschäftigen. Ich liebe Leuchttürme. Du weißt ja, ich fahre seit Jahren mit meinem Professor auf meine Insel. Und jedes Jahr steige ich den alten Turm hoch zur Galerie. Das sind zweihundertfünfundfünfzig oder zweihundertdreiundfünfzig Stufen, ich zähle sie jedes Mal, aber ich komme jedes Mal auf ein anderes Ergebnis. Ich liebe diesen Leuchtturm auf Norderney, ich bin unglaublich glücklich, wenn ich ankomme und endlich wieder dieses Monstrum sehe. Leuchttürme sind schön, Rüdiger, vielleicht kannst du einen für dich entdecken.«
    »Den Weiskern aufgeben? Du weißt, dass ich seit fünf Jahren daran sitze?«
    »Ich weiß. Aber wenn ihn keiner will.«
    »Ich will ihn, Marion, ich.«
    »Dann musst du um ihn kämpfen. Dann darfst du nicht aufgeben. Dann darfst du nicht an ihm und an dir zweifeln.«
    »Das klingt ganz nach Mama.«
    »Dann hör auf Mama. Und klage nicht mehr. Du hast halt ein besonderes Hobby, deinen Weiskern, und mit einem Hobby verdient man kein Geld, das kostet höchstens. Mein Hobby ist das Segelschiff, und das kostet jeden Cent, den wir übrig haben. Segeln ist teuer,sehr teuer, da bist du mit deinem Weiskern noch gut bedient.«
    »Danke, Marion, das ist sehr, sehr hilfreich. Vielen Dank. Leider habe ich keinen reichen Professor an der Hand, der mir mein Hobby bezahlt.«
    »Werd nicht unverschämt. Und damit du es weißt, umsonst ist in dieser Welt nur der Käse in der Mausefalle.«
    »War nicht so gemeint. So, und nun gehe ich ins Seminar und werde meinen Frust an den Studenten auslassen.«
    Stolzenburg ist verlegen. Er hatte Marion ungewollt gekränkt und verabschiedet sich jetzt besonders freundlich von ihr, streichelt ihr über den Oberarm. Nach dem Seminar fährt er zum Supermarkt, um ein paar Kleinigkeiten für die nächsten drei Tage einzukaufen, und geht danach in den benachbarten Bio-Laden, um Obst, Käse und Milch zu kaufen. Nachdem er die Einkäufe in der Fahrradtasche verstaut hat, schaut er auf die Armbanduhr und entschließt sich, bei Patrizia vorbeizuschauen, die um diese Zeit Feierabend machen müsste. Beim Einbiegen in die Straße, an deren Ende der Friseursalon liegt, in dem Patrizia für ihr Maniküregeschäft das hintere Zimmer angemietet hat, muss er scharf bremsen, da eine Mädchengruppe auf dem Fahrradweg steht und die Fahrbahn nicht freigibt, obwohl er heftig klingelt. Er stoppt so abrupt, dass ein Joghurtbecher und der eingewickelte Käse aus der Fahrradtasche herausgeschleudert werden und auf der Straße landen. Der Plastikbecher platzt auf, das Joghurt spritzt über das Pflaster, einige Spritzer landen auf den Schuhen und Beinen eines der Mädchen. Stolzenburg verhindert mit letzter Mühe einen Sturz. Er wirft einen wütenden Blick in Richtung der Mädchen und sammelt Käse und Joghurt auf. Als er den Becher mit dem Fuß in den Rinnstein schieben will, trifft ihn ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf. Er fährt herum, die fünf Mädchen starren ihn aus zusammengekniffenen Augen böse an. Sie werden dreizehn oder vierzehn sein, vielleicht jünger, vielleicht älter, er kennt sich mit Schulkindern nicht aus.
    »Seid ihr völlig verrückt geworden«, platzt es aus ihm heraus.
    Sein Fahrrad liegt auf dem Boden, mit dem eingewickelten Käse geht er einen Schritt auf die Mädchen zu.
    »Erst holt ihr mich vom Rad, und dann habt ihr die Frechheit …«
    »Hey, Alter, hey, du Arsch, hast du nicht was vergessen?«, unterbricht ihn ein besonders dünnes,

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