Weiß (German Edition)
Dir, ich mach Dich kalt, wenn Du mir den Lack versaut hast!“ Dann stürzte er auf sein Auto zu, strich mit den Fingern zärtlich über den Kotflügel und murmelte für Lewin unverständliche Worte. Der hatte nur wenige Augenblicke Zeit, sich über die überzogene Reaktion des Mannes zu wundern, denn bereits ein paar Sekunden später drehte der wütende Autoliebhaber sich wieder um und schrie erneut.
„Du verdammte Mistsau, da hast Du aber Glück gehabt! Es ist nichts zu sehen, aber erwische ich Dich auch nur noch ein einziges Mal in der Nähe meines Autos, dann bist Du fällig.“
Erst jetzt erkannte Lewin sein Gegenüber. Es war Wotan, der Eisverkäufer mit den nervösen Augen, der den kleinen Jungs immer eine Extraportion Streusel schenkte. Was um alles in der Welt hatte diesen harmlosen Mann nur dazu veranlasst, dermaßen auszurasten? Noch dazu wo seinem Wagen nichts passiert war.
Der dicke Wotan schnaubte wie ein wütender Stier. Sein hochroter Kopf leuchtete, sein Haar war so nass, als wäre er gerade unter der Dusche hervorgekommen und unter seinen Achseln hatten sich dunkle Schweißflecken gebildet. Wotans Lippen zitterten und seine Lider flackerten heftig. Lewin überlegte einen Augenblick, ob es dem schwitzenden Eisverkäufer vielleicht nicht gut ging, als ihm der schöne Aaron einfiel. Wer sagte ihm denn, dass Wotan nicht bereits infiziert war? Vielleicht hatte sich der Virus in seinem Körper bereits komplett ausgebreitet. Hatte ihn überrollt, erledigt und war nun bereit, sich einen neuen Wirt zu suchen.
Je genauer Lewin hinsah, desto schlechter sah Wotan plötzlich aus. Er schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können, sein Blick wirkte glasig und der Kopf wurde immer roter.
Er musste hier weg. Wahrscheinlich hatte er schon viel zu lange gezögert, das Risiko unnötig vergrößert. Lewin wollte sich gerade mit einer Geste der Entschuldigung verziehen, als in einem der umliegenden Häuser eine Tür aufgerissen wurde und eine leicht bekleidete Frau herausstürmte.
Tamara, die bärtige Hure
In Weiß gab es jede Menge leichter Mädchen, Ganoven und Halsabschneider, aber eine wie Tamara fand man hier kein zweites Mal.
In einem früheren Leben war sie eine ganz normale Angestellte, die in einem Supermarkt an der Kasse saß. Ihre Tage bestanden daraus, Essiggurken, Toilettenpapier und Knäckebrot über den Scanner zu ziehen, schmutzige Geldscheine durch ihre Hände gleiten zu lassen und mit ihren rot lackierten Kunstnägeln geheimnisvolle Kombinationen in ihre Kasse zu hämmern. Irgendwann aber genügte Tamara das nicht mehr und sie beschloss, der Einöde aus ewig langen Supermarktregalen, in denen die wöchentlich wechselnden Sonderangebote das einzige Highlight waren, zu entfliehen.
Tamara beschloss, sich einen Mann zu suchen.
Nun muss man an dieser Stelle sagen, dass Tamara nicht unbedingt leicht zu vermitteln war, denn obwohl sie rein körperlich betrachtet keinesfalls von der Bettkante zu stoßen war, hatte sie einen kleinen Makel, der sich bereits aufgrund der Bezeichnung dieses Kapitels erraten lässt: Tamara hatte ein haariges Problem.
Über ihre vollen, tiefrot beschmierten Lippen, schimmerte ein flaumiger Damenbart im grellen Schein der Supermarktbeleuchtung. Dieses Neonlicht, ich habe es an anderer Stelle bereits erwähnt, ist der Feind eines jeden menschlich aussehenden Menschen. Jeder noch so kleine Fehler oder Makel wird durch dieses weiße Strahlen wie von Zauberhand in den Mittelpunkt gerückt, sodass man anschließend nicht mehr dazu in der Lage ist, seinen Blick von der schiefen Nase, den faulen Zähnen oder eben dem fröhlich sprießenden Damenbart seines Gegenübers abzuwenden.
Da Tamara im Supermarktmilieu zu Hause war, wusste sie um dieses Risiko, weshalb ihr sehr schnell klar wurde, dass sie einen geeigneten Ehemann nur außerhalb ihrer täglichen Wirkungsstätte finden konnte. So kündigte sie ihren Job und widmete sich verstärkt der Kontaktsuche auf den Straßen des nächtlichen Weiß'. Die Nacht schien hierfür besonders erfolgversprechend, da die Dunkelheit es bekanntermaßen vermag, gewisse Unstimmigkeiten im Aussehen einer Person geschickt zu kaschieren. Leider hatte Tamara bei ihren Überlegungen nicht bedacht, dass die Nacht nicht ewig währt und dass jeder potentielle Interessent ihr kleines Geheimnis spätestens am nächsten Morgen entdecken würde.
So war es dann auch, und einer nach dem anderen floh vor der bärtigen Lady, deren haariges Herz von Tag
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