Weiß (German Edition)
unnatürlicher und vollkommen ungewohnter Druck lastete auf ihm, sodass es kein Wunder war, dass er empfindlich reagierte.
Lewin schmunzelte. Er war in einem Wald, hier knackte und knirschte es andauernd. Aber bereits einen Augenblick später verzerrte sich das Lächeln auf seinen Lippen. Da war es schon wieder. Und es war kein Knacken oder Knirschen, sondern eine Stimme. Jemand schien da vorne im Wald zu singen und das viel zu nah an seinem Versteck.
Vorsichtig richtete Lewin sich auf. Leise versteckte er seinen Rucksack unter einem der umliegenden Büsche und achtete darauf, dass er von einem Fremden nicht sofort gesehen werden konnte. Er schaute sich um, prägte sich den Platz ein und versuchte dann, sich möglichst geräuschlos durch das Unterholz zu bewegen. Er musste herausfinden, was da vorne los war. Er hatte keine Lust, von einer Pfadfindergruppe im Schlaf überrascht und ausgefragt zu werden. Unter den gegebenen Umständen hatte er überhaupt keine Lust auf Menschen in seiner Nähe.
Die singende Stimme kam immer näher und Lewin erkannte bald, dass es sich nicht um eine Pfadfindergruppe handeln konnte. Die Stimme hatte ganz offensichtlich ein Solo, nur eine Person sang, und sie leierte. Die Töne gingen rauf und runter, waren schief und wurden teilweise gelallt. Der Sänger hatte anscheinend zu tief ins Glas geguckt.
Eigentlich hätte Lewin diese Erkenntnis beruhigen müssen; sich vor einem Betrunkenen im Wald zu verbergen , durfte nicht besonders schwierig werden. Aber andererseits waren Betrunkene in der Regel aufdringlich und warmer Körperkontakt war das letzte, was er jetzt wollte.
Lewin erkannte an der Lautstärke der Stimme, dass er dem Unbekannten jetzt immer näher kam. Vermutlich befand er sich gleich dort vorn auf der nächsten Lichtung. Mit feuchten Händen schob er die Blätter eines Busches auseinander und als er den Rotschopf sah, der dort vorn auf der Wiese im Gras lag und den Himmel angrölte, zog er überrascht beide Augenbrauen nach oben.
Die fleißigen Waldwiesel
Ich selbst war einmal Mitglied einer Pfadfindergruppe und ich möchte ausdrücklich betonen, dass das nicht meine Idee gewesen ist. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es Simons Wunsch oder der meiner Mutter war, der mich in diesen Club der nervtötenden Kinder gebracht hat; fest steht nur, dass ich diesen Verein gehasst habe!
Ich hasste all diese Kinder, die so wahnsinnig aufopferungsvoll um ihre Mitmenschen und die Natur bemüht waren; die sich in endloser Hingabe so unnatürlich langweiligen Dingen wie Kartenlesen oder Vögel katalogisieren widmeten und bei jedem neuen Fleißsternchen, dass sie sich verdient hatten, in Tränen der Freude und des Stolzes ausbrachen. Dabei waren sie in Wirklichkeit ein vollkommen totalitäres und radikales Gefüge. Sobald sie nämlich entdeckten, dass jemand unter ihnen all diesen Dingen nicht so leidenschaftlichen gegenüberstand, wurden sie giftig. Sie piesackten mich, ließen mich den Laufburschen spielen und die Latrinen schrubben, so lange bis ich mich irgendwann unterwarf und das Pfadfinderleben zu jeder möglichen Gelegenheit in den Himmel lobte. Sie hatten meinen Willen gebrochen. Allerdings nur äußerlich.
Gott weiß, wieso ich die ganze Sache nicht einfach hingeschmissen, den schmutzigen Waldwieseln den Stinkefinger gezeigt und mich dann schnellstmöglich aus dem Staub gemacht habe. Ich schätze, ich wollte vielleicht einfach mal dazugehören. Außerdem schien es, als hätte Simon in dieser Gruppe wirklich Spaß, weshalb ich um alles in der Welt nichts unversucht lassen wollte, um dieses Gefühl ebenfalls in mir zu erzeugen. Und um bei ihm zu sein. Ich hüllte mich also in einen Deckmantel aus grünem und braunem Laub und biss die Zähne zusammen. Egal wie arg mich die Dornen in den Arsch piksten. Das ging auch eine ganze Weile lang gut, bis zu einer Nacht im Hochsommer.
Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals gewesen bin, aber eine Schätzung würde sich bei ungefähr zehn Jahren einpendeln. Es sollte ein ganz besonderes Wochenende werden, denn Zelten im Freien stand auf dem Terminplan. Die fleißigen Waldwiesel wollten, gemeinsam mit ihrem stets leicht zurückgeblieben wirkenden Betreuer Manni, ganz allein im Wald übernachten. Sie wollten für sich selbst kochen, ihre Zelte alleine aufbauen und sich am Lagerfeuer gegenseitig Gruselgeschichten erzählen. Selbstverständlich hatte ich selbst so etwas bereits tausende von Malen gemacht, weshalb der Reiz des Ganzen für mich
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