Weiß (German Edition)
den Fleischlappen noch immer zwischen seinen Zähnen. Das Blut lief ihm übers Kinn. Dann sprang er ein paar Mal kichernd in die Luft und klatschte in die Hände, wie ein Kind, das sich über eine Überraschung freute. Oder wie ein Affe, der einen Trick vorgeführt hatte.
Nachdem Lewin noch einen weiteren Augenblick vollkommen schockiert dagestanden hatte, wusste er plötzlich, was zu tun war. Der Gedanke rückte erst jetzt in sein Bewusstsein, obwohl er bereits die ganze Zeit über in ihm gewesen war. Er hatte sich irgendwann im Laufe des Tages heimlich dort eingenistet, war gewachsen und gereift, aber sein Verstand hatte sich bis jetzt geweigert, ihn zu akzeptieren.
Auf einmal fühlte er sich als würde er v on innen heraus wachsen und auf seinem gesamten Körper breitete sich ein sanftes Prickeln aus. Der Schmerz war jetzt vollkommen vergessen, nicht mehr als ein dumpfes Pochen. Seine Haut wurde warm und sein Kopf leer. Das war ihm heute bereits ein paar Mal passiert, aber im Gegensatz zu den vorherigen Malen, fühlte sich das jetzt keineswegs unangenehm an. Er würde dieses Mal nicht versuchen, sich zurückzuhalten. Wozu auch. Was geschah, geschah und Kneif hatte es nicht anders verdient.
Als Lewin den geifernden Kneif, der von einem Bein auf das andere sprang, ein letztes Mal betrachtete, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Vom richtigen Blickwinkel aus betrachtet, tat er Kneif sogar einen Gefallen. Dann schloss er die Augen, ließ sich fallen und schrie.
Acht
Als Lewin die Augen öffnete, fühlte er sich, als könnte er Bäume ausreißen. Durch seine Adern pulsierte eine angenehme Wärme, die ihm Vitalität verlieh. Das Adrenalin strömte durch seinen gesamten Körper, seine Hände zitterten leicht vor Erregung, aber das störte ihn nicht, denn das Gefühl war angenehm. Sein Kopf war federleicht und in seiner Brust schienen Schmetterlinge umherzufliegen, er fühlte sich kribbelig und geradezu euphorisiert. Einzig die Bisswunde an seiner Seite schmerzte. Es war kein schlimmer Schmerz, nur ein unangenehmes Pochen. Lewin vermied es trotzdem, sich die Wunde anzusehen. Er fühlte sich zu gut, als dass er sich jetzt einer blutigen Bisswunde aussetzen wollte, nach deren Anblick er sich vielleicht übergeben musste.
Kneif lag ein paar Meter von ihm entfernt mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden. Seine Glieder waren weit von ihm gestreckt und sein Shirt war jetzt klitschnass von seinem Schweiß. Lewin ging langsam auf ihn zu und griff sich auf dem Weg einen langen, dünnen Stock aus dem knöchelhohen Gras.
Als er den reglosen Körper herumdrehte, wusste er, welcher Anblick ihn erwarten würde. Dementsprechend war die einzig sichtbare Reaktion nur ein angewidertes Kräuseln der Lippen. Kneifs Gesicht war aufgedunsen, seine Augen starrten weit aufgerissen und blutunterlaufen in die Leere. Neben den zahllosen Sommersprossen war sein Gesicht besudelt von Lewins Blut. Das Stück Fleisch, dass er Lewin herausgerissen hatte, war ihm aus dem Mund gefallen und lag ein paar Schritte entfernt. Lewin zwang sich dazu, es nicht anzusehen. Aus Kneifs Nase, Mund und Augen lief die weiße, milchige Flüssigkeit, die hier und da ein kleines Bläschen bildete und sich mit dem Blut vermischte.
Nachdem er den leblosen Körper eine Weile betrachtet hatte, nahm Lewin einen süßlichen, leicht schwefeligen Geruch wahr, den der tote Kneif verströmte. Wie auch bei der Katze am Morgen, brannte dieser Geruch in Lewins Nase. Trotzdem fuhr er fort, den Leichnam zu untersuchen. Er hob Kneifs schweißnasses T-Shirt an und stellte fest, dass an seinem gesamtem Oberkörper Adern geplatzt sein mussten. Auf seiner Haut zeichneten sich mehrere große und kleine blaurote Flecken ab. Lewin versuchte sich zu erinnern, ob Blutergüsse, sich nach dem Tod wieder zurückbildeten oder ob sie den Körper eines Toten für immer zierten.
Er ließ das Shirt sinken und legte sich neben Kneif auf den Boden, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er blickte in die sich wiegenden Baumkronen und merkte wie sein ganzer Körper sich immer mehr entspannte. Dann begann er nachzudenken. Es gab keine mysteriöse Krankheit, keine Seuche, kein Virus, keine Epidemie. Kneif und der alte Mann, der schöne Aaron und die verdammten Katzen – das alles war er selbst gewesen. Oder besser, dieses Gefühl in ihm. Tief in sich drinnen hatte er etwas Ähnliches sicher schon die ganze Zeit vermutet, denn sonst wäre er wegen dieser Krankheit schon viel früher
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