Weiss
würde, den das Kabinett jetzt schon zwei Jahre hintereinander mehrmals nach Finnland gerufen hatte, um Probleme zu lösen. Doch ein Profi auf dem Gebiet der Vermeidung von Problemen überließ nichts dem Zufall und bloßen Vermutungen.
Er nahm Väinö Hervos Ölgemälde von der Wand, legte es auf die Kommode und öffnete mit zitternden Händen seinen Safe, einen Ponsec ES1–650. Danach gäbe es kein Zurück mehr. Er schob die Lederunterlage auf seinem Schreibtisch zurecht und legte ein Dokument genau in die Mitte, den sonstigen Inhalt des Tresors stopfte er in seinen Pilotenkoffer.
Palomaa zog sich an und warf einen letzten Blick auf die Räume, die zwanzig Jahre lang sein Hauptquartier gewesen waren, dann trat er ins Treppenhaus und ließ die Wohnungstür einen Spalt offen. Von seiner Rolle als Schatzmeister des Kabinetts wusste nur eine Person, Anita Arho. Im Gegensatz zum Kabinett konnte er dem kirgisischen Killer nicht befehlen, sie zum Schweigen zu bringen, er musste die Frau mit Hilfe der Polizei und der Gerichte ausschalten. Falls Anita Arho im Gefängnis landete und aus dem Kabinett flog, wäre sie kaum imstande, ihn zu suchen und zu finden. Der Polizei würde er seine Informationen nicht übergeben; wer weiß, in wessen Hände sie gerieten, wenn Jukka Ukkola oder einer seiner Befehlsempfänger als Erster in der Kanzlei eintreffen würde. Palomaa holte Leo Karas Visitenkarte aus der Tasche, er würde ihn auf dem Flughafen anrufen, kurz bevor er in die Maschine stieg.
Der Titel des Dokuments, das Eero Palomaa auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte, lautete kurz und prägnant »Kabinett«.
20
Sonntag, 15. August
Betha Gilmartin war am Vormittag um zehn Uhr noch zu Hause in Putney und nicht in Legoland, wie man es von der stellvertretenden Leiterin des Auslandsgeheimdienstes eines Staates, der erpresst wurde, erwartet hätte. Allerdings hatte sie nicht verschlafen oder war nicht einmal später als sonst aufgestanden, sondern saß mit angelegter Rüstung und der Katze Violet auf dem Schoß in ihrem Arbeitszimmer und las einen medizinischen Artikel, dessen Beschreibung der Folgen eines traumatischen Erlebnisses hundertprozentig auf Leo zutraf.
In was für einem Zustand musste der vierzehnjährige Leo im Oktober 1989 gewesen sein, wenn er mit angesehen hatte, was seiner Familie angetan worden war. Sicher hatten ihn Angst und Entsetzen überwältigt. Es war frustrierend, dass ihr nichts einfiel, wie sie Leo helfen könnte.
Auf dem Schreibtisch lag auch ihr neuestes ärztliches Gutachten, doch sie hatte keine Lust hineinzuschauen. Sie wusste schon, was es enthielt: Von Geburt an hatte sie ein Loch in der Herzscheidewand zwischen den Herzkammern, und damit musste sie einfach klarkommen.
Betha Gilmartin schloss die Augen und stellte mit Besorgnis fest, dass sie wieder den Garten ihres Sommerhauses in Torquay vor sich sah. War das ein Zeichen dafür, dass sie die Nase voll hatte von der Welt der Nachrichtendienste, vom ständigen Stress, vom Zweifel an allem? Wäre sie imstande, ihre Arbeit aufzugeben?
Sie ging in die Küche, wo Albert sein Morgenritual vollzog. Erbereitete das Frühstück vor: Spiegeleier und Tomaten, Bohnen, Toastbrot und Kaffee. In sechsundzwanzig Ehejahren hatte Albert gelernt, nicht zu viele Fragen zu stellen, obwohl er es sofort bemerkte, wenn ihr etwas auf der Seele lag. Albert wusste, dass sie ihm ihre Sorgen in Kürze offenbaren würde.
»Wann gehen wir in Pension?«, fragte Betha mit einem Lächeln, als sie sich an den Frühstückstisch setzten.
»Meinetwegen sofort«, antwortete Albert grinsend, legte aber die Gabel auf den Teller, als er Bethas ernste Miene sah.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Der Arzt und Sir Anthony sind der Meinung, dass meine Pumpe die Arbeit als Chefin des SIS nicht durchhält.«
»Und was meinst du?«
»Sie wird so lange durchhalten, wie es eben geht.«
Albert dachte einen Augenblick nach. »Im Prinzip könnten wir jederzeit in das Ferienhaus in Torquay umziehen und uns um den Garten kümmern. Ich würde einen Literaturstudenten engagieren, der sich um den Laden kümmert, so viel wirft der allemal ab, dass ich einen kleinen Lohn zahlen könnte. Wir beide kämen mit deiner Pension prima zurecht.«
Betha bemerkte, dass Albert zuversichtlich wirkte. Das machte es ihr noch schwerer, eine Entscheidung zu treffen. Nur wenn sie weiter arbeitete, wäre sie imstande, Leo zu helfen, und das dürfte sie dem Jungen schuldig sein. Bei den Ermittlungen im
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