Weiss
ihm. Der Anblick war wie ein Schlag ins Gesicht. Nichts hatte sich verändert. Vielleicht war nach diesen Tagen niemand mehr hier gewesen.
Er erinnerte sich genau, was er damals empfunden hatte: die grenzenlose, zermürbende Angst, das tiefe Mitleid mit Vater, die quälende Sorge um das Schicksal von Schwester und Mutter. Kara zwang sich dazu, einige Schritte zu gehen. An der Brandmauer bückte er sich, kniete nieder, drückte das Gesicht auf den Boden und schaute mit einem Auge durch das winzige Loch, das er vor einundzwanzig Jahren in den Fußboden gekratzt hatte.
Wut loderte in ihm empor, als kein einziges neues Bild aus seinem Gedächtnis auftauchte. Diese ganze Tortur brachte überhaupt nichts. Kara stand auf, stieg die Holztreppe hinunter und betrat die Halle in der dritten Etage. Hier hatte ihn laut Betha die Polizei damals halbtot gefunden. Doch er wartete vergeblich auf neue Erinnerungen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in den Keller zu gehen.
Kara warf sich drei Dialar-Pillen in den Mund, obwohl er wusste, dass sie noch nicht wirken konnten, wenn er jetzt gleich einen Schock erlitt, aber zumindest würden sie ihn abkürzen. Er stieg rasch ins Erdgeschoss hinunter und verlangsamte unten seine Schritte. Das Licht wurde immer schwächer, und als er den Keller erreichte, herrschte völlige Dunkelheit. Er probierte den Lichtschalter, doch der funktionierte nicht. In den Kellerräumen befanden sich unterhalb der Decke kleine, vergitterte Fenster, durch die Tageslicht hereindrang, das wusste Kara, er würde also etwas sehen können, sobald er eine der Türen öffnete. Doch die waren im dunklen Kellergang kaum zu erkennen. Dann fand er endlich die richtige Tür. Hier war es gewesen. In diesen Raum hatte man ihn und Emma eingesperrt. Der Spion war noch da, und der Schlüssel steckte im Schloss.
Vorsichtig öffnete er die Stahltür. Die Scheibe des vergittertenFensters war kaputt, es rauschte, die Ursache dafür war der Durchzug. Mit klopfendem Herzen trat er hinein und sah die Ziegelwand und den Kanalisationsschacht, an dessen Rändern Emma verzweifelt gekratzt und herumgeklopft hatte. Jetzt ging es los, in seinem Kopf passierte etwas.
Im selben Augenblick fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Manas schaute durch den Spion des Kellerlochs und sah und hörte, wie Kara brüllte. Ihm blieb genug Zeit, zu beobachten, wie der Mann durchdrehte. Es würde sicher eine Weile dauern, bis Kara es schaffte, zu telefonieren und Hilfe herbeizurufen, und noch mehr Zeit würde vergehen, ehe die Hilfe eintraf. Eine solche Gelegenheit, Gefühle zu beobachten, bot sich, wenn überhaupt, äußerst selten. Es gab erstaunlich viele Ähnlichkeiten zwischen Leo Kara und ihm selbst. Kara hatte 1989 unter großem Stress Eigenschaften an den Tag gelegt, auf die auch er stolz gewesen wäre.
***
Sabrina Pianini lief in der Abteilung für Männerbekleidung des GUM-Warenhauses umher und machte sich Vorwürfe. Warum nur hatte sie dem Mann vom AISI gesagt, sie würde zu jeder vollen Stunde am Observatorium im Minsker Zentralpark vorbeigehen? Gerade war sie von ihrer zweiten vergeblichen Runde um das Observatorium zurückgekehrt. Binnen kurzem würde sie irgendjemandem auffallen, das erschien unvermeidlich, warum brauchten die Polizisten so verdammt lange, um von Italien nach Weißrussland zu kommen? Vielleicht würde auch gar niemand kommen, möglicherweise hatte man ihren Anruf als wirres Gefasel einer Verrückten abgetan. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass sie im GUM von einer Etage zur anderen ging, auf der Straße könnte sie einem Polizisten in die Arme laufen.
Aus der Männer-Abteilung wollte sie schnell weg, die brachte sie nur auf unangenehme Gedanken. Als Guido früher viel Zeitim Krankenhaus verbringen musste, hatte sie zuweilen einen Abstecher in die Warenhäuser von Pisa gemacht und Kleidungsstücke für ihren Bruder gekauft. Der hatte sich allerdings, auch wenn es ihm gut ging, nie sonderlich darum gekümmert, wie er angezogen war, er schämte sich, weil er einen verkrüppelten Fuß hatte und krankhaft dünn war.
Sabrina Pianini blieb vor einem Spiegel stehen. Sie sah erbärmlich aus, sogar im Vergleich mit den Einwohnern von Minsk, die zumindest nach italienischen Maßstäben nicht sehr viel Wert auf ihr Outfit legten. Nun wusste sie also auch, dass sich ein Mensch innerhalb einer Woche aus einer normalen Wissenschaftlerin in eine Fixerin mit fettigem Haar und eingefallenen Wangen verwandeln konnte, dafür
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