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Weiss

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Titel: Weiss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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Treppengeländer im Obergeschoss und sah, wie die Polizisten aus dem Haus hinausrannten.
    Sie steckten in der Falle.
    ***
    Leo Kara vermutete, dass er schon bald einen schweren Fehler machen würde, aber das war schließlich nichts Neues. Er hatte in den letzten zwanzig Jahren zahllose Dummheiten begangen. Das war kein Wunder, denn er hatte sich und sein Verhalten nicht unter Kontrolle, weil ihm diese Fähigkeit fehlte. Er wollte endlich ein anderes Leben oder überhaupt ein richtiges Leben und nichtständig von einer Katastrophe in die nächste stolpern. Doch das gelang ihm nur, wenn der Schleier über den Geheimnissen seiner Vergangenheit gelüftet wurde. Und wenn das wiederum voraussetzte, dass er – wie Betha behauptet hatte – in einen ähnlichen Zustand und ähnliche Umstände geriet wie damals, als seine Traumata entstanden waren, dann musste er diesen Preis zahlen.
    Kara stand hundert Meter von dem Industriegebäude entfernt, das die Forschungsgruppe seines Vaters damals genutzt hatte. Ihm war übel. Kein einziges Beruhigungsmittel hatte er genommen, wer versuchte, in die geheimsten Verstecke seines Gehirns einzudringen, durfte es nicht betäuben. Er wollte den Ort besuchen, an dem alles angefangen hatte.
    Die Scheiben der vergitterten Fenster in dem vierstöckigen Gebäude waren teilweise eingeschlagen, die Balkone auf den Treppenabsätzen abgerissen und einige Türen zugenagelt. Das Industriegebiet Park Royal wurde in rasantem Tempo erweitert, auch dieses verlassene Objekt würde man garantiert demnächst abreißen, es war eines der letzten altersschwachen, halb verfallenen Gebäude, die hier noch standen.
    »Wer nichts wagt, der nichts gewinnt«, sagte sich Kara und ging zum Haupteingang. Die verrosteten Scharniere gaben nach, als er dreimal kräftig gegen die Tür trat. Drinnen roch es nach Metall, Kara atmete tief ein und war überrascht: Der Anblick der Eingangshalle löste bei ihm keinerlei Reaktion aus. Er hatte angenommen, schon allein beim Betreten des Gebäudes würden Bilder aus seiner Erinnerung wieder auftauchen. Vielleicht musste er Orte aufsuchen, an denen Schlimmes geschehen war: Den Dachboden und den Raum, in dem man Vater getötet hatte. In den Keller würde er nicht gehen, alles hatte seine Grenzen.
    Nach den überall herumliegenden Kabelresten und Verpackungen zu urteilen, hatte hier zuletzt irgendeine Elektronik- oder Elektrofirma ihr Domizil gehabt. Die Sonne schien durch die vergitterten Fenster in die große Fabrikhalle, aber im Treppenhauswar es dämmrig. Je näher er der dritten Etage kam, um so mehr beschleunigte sich sein Puls. Er sah seinen Vater genauso deutlich vor sich wie die Treppenstufen, auf dem Stuhl in den letzten Stunden vor seinem Tod. Vor dem Mord.
    An der Tür zum Folterraum atmete Kara tief ein und schob sie dann auf.
    Er hörte das dumpfe Geräusch, als die Faust von Manas Vater traf, und schloss die Augen. Blut floss von Vaters Kopf auf die Schultern, die Rinnsale vereinigten sich zwischen den Schulterblättern zu einem kleinen Bach. Vater saß vorgebeugt auf dem Metallstuhl, das Kinn lag auf der Brust.
    Kara musste die Augen öffnen, die Bilder aus seiner Erinnerung waren so lebendig, dass es unerträglich wurde. Dort, nur zwei Meter entfernt, hatte Vater zusammengesunken gesessen, gefesselt an den Stuhl, misshandelt, blutüberströmt. Er hatte gestöhnt mit leiser, tiefer Stimme, man sah ihm an, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Der Blutverlust war gewaltig gewesen, er wurde schon zwei Tage lang gefoltert. Wenn Manas Vater quälte, dann verrieten seine Bewegungen Sicherheit und Ruhe, auf dem Gesicht des Kirgisen ließen sich keinerlei Empfindungen ablesen; nur als er Vater mit einem Stock schlug, hatte er vor Anstrengung immerhin die Stirn gerunzelt. Vater war zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit hin- und hergetaumelt, warum nur hatte er nicht aufgegeben, der Dummkopf. Und dann hatte Manas gelächelt, und es war kein teuflisches Lächeln gewesen, sondern ein freundliches …
    Das Lächeln des Killers ließ Kara keine Ruhe, als er den Raum verließ, er konnte sich nicht erinnern, es jemals vorher so deutlich gesehen zu haben. Warum hatte Manas seinen Vater angelächelt?
    Die Holztreppe zum Dachboden sah morsch aus, aber Kara trat vorsichtig auf den Rand der Bohlen und verlagerte einen Teil seines Gewichts über die Arme auf die Geländer. Er musste einhalbes Dutzend Mal gegen die zugenagelte Tür treten, ehe sie nachgab. Dann lag sein Versteck vor

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