Weiss
etwa zwanzig Stunden, es sind ungefähr sechshundert Seemeilen«, antwortete der Oberkommandierende der Streitkräfte. »Aber die Entscheidung über eine Erstürmung der »MS Mu San »muss bald getroffen werden. In der Gegend von A Coruňa geht die Sonne in einer halben Stunde unter, und danach ist es um das Schiff herum stockdunkel. Angesichts momentan sehr schwerer See ist eine Erstürmung des Frachters bei Nacht nicht zu empfehlen.«
»Dafür muss auf jeden Fall die Zustimmung Spaniens und der NATO-Verbündeten eingeholt werden«, sagte der Premierminister leise. Er hörte sich nicht mehr sehr entschlossen an.
***
Gilbert Birou saß im Restaurant »Pierre Gagnaire« in der Pariser Rue Balzac, das über drei Michelin-Sterne verfügte, und bedauerte aufrichtig, dass er die Speisen nicht mit allen Sinnen genießen konnte. Das Restaurant »Pierre Gagnaire« hatte schließlich im letzten Jahr den neunten Platz auf der S. Pellegrino-Rangliste der fünfzig weltbesten Restaurants erreicht. Birou aß schon das Dessert, Salzmandeleis mit Ananaskirschen, Mandelgebäck »Cantuccini«und Kürbisstreifen. Es schmeckte himmlisch. Die Krönung war seiner Ansicht nach jedoch schon die Vorspeise gewesen, ein lauwarmer, mit Kräutern gewürzter Artischockensalat. Das Hauptgericht, Steinbutt mit Chinakohl, Essiggurken, Pilzen und Walnüssen, dürfte vielleicht für so einen feierlichen Anlass einen Deut zu traditionell gewesen sein. Verwässert wurde das Ganze auch ein wenig dadurch, dass er keinen Wein getrunken hatte. Er wollte einen klaren Verstand behalten.
Als Gilbert Birou einen Espresso und zwei verwirrend delikate Pralinen von Michel Cluizel genossen hatte, war er bereit. Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, ging er ein Stück auf der Rue Balzac in Richtung Arc de Triomphe und winkte dann ein entgegenkommendes Taxi heran. Er bat den Chauffeur, über die Champs Élysées zur Avenue du Docteur Brouardel zu fahren, und schaute mit ernster Miene auf das Herz von Paris, das im Glanz der Straßenlaternen und Leuchtreklamen badete.
Er wollte immer noch nicht richtig glauben, dass er in eine derartige Sackgasse geraten war, nur weil Mathilde die Möglichkeit haben musste, Zeit mit Jungen zu verbringen, mit Jungen wie Gilbert.
Wenig später hielt das Taxi am Rande des Champ de Mars an. Birou betrachtete den Fahrer, während er bezahlte. Es stimmte ihn wehmütig, dem Mann auf Wiedersehen zu sagen, obwohl sie sich nie zuvor getroffen hatten und sich auch nie wieder sehen würden. Er stieg die Treppe hinauf in die zweite Etage und öffnete seine Wohnungstür.
Empfangen wurde er nur von den schönen Gegenständen, die er im Laufe der Jahrzehnte gesammelt hatte. Viel Glitzerglanz und grelle Farben, wenig angenehme Erinnerungen.
Er wollte es nicht in die Länge ziehen. Nach dem Duschen und dem sorgfältigen Rasieren der Körperhaare öffnete er die Tür seines Boudoirs und hatte endlich das Gefühl, zu Hause zu sein, als er in den Raum mit purpurner Seide, gedämpftem rotem Lichtund rosafarbenen Möbeln trat. Die Orchideen waren allerdings verwelkt.
Es vergingen fast zwei Stunden, bis er seine Zehennägel lackiert, Make-up aufgelegt, sich angekleidet und die Perücke aufgesetzt hatte. Diesmal tat er alles sorgfältiger als je zuvor.
Als Letztes nahm er aus dem Spiegelschrank die jahrzehntealte Handtasche Chanel 2.55 seiner Mutter und stellte sich vor den Spiegel, um Mathilde zu betrachten. Das war sein Meisterwerk. Sein Erbe.
Gilbert Birou ging in die Küche und nahm zwei Teller aus dem Kühlschrank. Das Essen hatte er schon vorher am Nachmittag zubereitet. Er schaute sich gründlich in seiner Wohnung um, kehrte in das Boudoir zurück und verschloss die Tür.
Es war Zeit, den Punkt auf das I zu setzen. Er rückte den Spiegeltisch in die Mitte des Raumes und stellte zwei Stühle dazu, einen für Mathilde und einen für Gilbert. Ein gerahmtes Farbfoto des zwölfjährigen Gilbert Birou stellte er an das gegenüberliegende Ende. Dann deckte er den Tisch, schob die Teller, das Besteck und die weißen Servietten zurecht und setzte sich.
Jetzt war alles gut. Alles war so wie damals vor langer Zeit, als Gilbert und Mathilde noch gemeinsam Kartoffeln mit Fisch gegessen hatten. Mathilde durfte nie mehr nett und freundlich zu einem lebendigen Gilbert sein, also war es auch für sie Zeit, sich in eine bloße Erinnerung zu verwandeln.
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Dienstag, 17. August
Leo Kara wusste nicht, ob er wach war oder träumte. Er fühlte sich gut und
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