Weiss
ausgeruht und konnte sich nicht erinnern, auch nur einen einzigen Alptraum gehabt zu haben. Vielleicht war irgendetwas in seinem Kopf kaputtgegangen, oder wiederhergestellt worden. Betha hatte recht gehabt, die Rückkehr in den Park Royal hatte etwas bewirkt, er erinnerte sich jetzt an Dinge, die jahrzehntelang in den dunklen Tiefen seines Gedächtnisses geschlummert hatten.
Er öffnete die Augen und erblickte Alberts besorgtes Gesicht.
»Endlich bist du aufgewacht. Geht es dir gut? Was ist eigentlich mit dir passiert?« Albert war aufgestanden und beugte sich über Kara.
»Schön, dich zu sehen. Wo ist Betha?«
Albert ächzte. »Sie konnte nicht kommen, in Vauxhall Cross ist natürlich gerade wieder mal irgendwas Besonderes los. Was ist das für ein Leben, wenn man nicht einmal einen nahestehenden Menschen im Krankenhaus besuchen kann?«
»Betha ist eben Betha. Jeder muss halt seine Arbeit machen«, erwiderte Kara.
»Ihr geht es nicht gut, ich bemerke das natürlich, obwohl sie wie üblich über nichts klagt. Sie wirkt so gestresst wie noch nie. Ich fürchte, dass ihr Herz das nicht mehr lange mitmacht.«
Kara antwortete nicht. Albert machte sich wegen Bethas Herzfehler Sorgen, seit er ihn kannte. »Wie lange liege ich schon hier? Wie spät ist es?«, fragte er und setzte sich auf. Dann entdeckte er die Uhr an der Wand, sah, dass die Zeiger auf der Acht standen, und warf einen Blick hinaus – es war taghell, also früh am Morgen.»Habe ich seit gestern Abend geschlafen?« Als Erstes schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob es nun schon zu spät sei. Er stand auf und fühlte sich ausgezeichnet, allerdings war der Fußboden unter den nackten Füßen eisig.
»Hast du die Medien verfolgt? Wurde in irgendeinem Zusammenhang über Sellafield berichtet?«, fragte er Albert, der die Hand auf seine Schulter legte.
»Ich habe nichts gehört, ich sitze schon stundenlang hier. Junge, steh doch nicht gleich wieder auf …«
Kara ging zum Kleiderschrank und begann gerade sich anzuziehen, als eine junge Ärztin im weißen Kittel hereinmarschiert kam und mitteilte, sie sei Oberärztin Harris, die Stationsärztin der Notaufnahme.
»Ich kann auf gar keinen Fall empfehlen, dass Sie nach Hause entlassen werden. Sie hatten gestern eine akute Psychose und haben eine ziemliche Menge Neuroleptika bekommen«, sagte die Ärztin besorgt und schaute sich Karas Patientendaten an.
»Ich gehe jetzt!« Kara fuhr sie so heftig an, dass die Ärztin einen Schritt zurückwich. Albert schüttelte den Kopf.
»Sie sind ja immer noch ganz außer sich«, warnte die Ärztin.
»Danke, Albert, dass du gekommen bist. Und entschuldige, dass ich jetzt gehen muss. Ich erkläre das alles irgendwann später«, sagte Kara und kümmerte sich nicht um die besorgte Miene der Oberärztin.
»Ja, ja, natürlich. Sei wenigstens vorsichtig«, erwiderte Albert.
Oberärztin Harris stellte sich Kara in den Weg.
»Ich bin der persönliche Assistent des Generaldirektors des UNODC und halte mich dienstlich in London auf«, verkündete Kara so ruhig wie möglich. »Ich kann Ihnen natürlich sehr detailliert erläutern, warum ich gezwungen bin, dieses Krankenhaus jetzt sofort zu verlassen, aber das würde uns beide nur unnötigerweise Zeit kosten.«
Dr. Harris zuckte die Achseln und trat beiseite.
Der Haupteingang des Krankenhauses Central Middlesex lag nur ein paar hundert Meter vom Firmensitz der BAE Systems entfernt. Alberts Jaguar stand noch da, wo Kara ihn am Vortag geparkt hatte, allerdings schmückte die Windschutzscheibe jetzt ein Knöllchen. Kara beschloss, die Geldstrafe bei nächster Gelegenheit zu bezahlen. Es ärgerte ihn, dass er nicht daran gedacht hatte, Albert zu fragen, ob er sich den Wagen noch weiter ausleihen durfte.
Er nahm auf dem Ledersitz Platz, suchte mit der Internetverbindung seines Telefons die Website des Nightingale-Krankenhauses und tippte die Adresse in das Navigerät ein:
11–19 Lisson Grove, Marylebone. Die Entfernung betrug 4,1 Meilen.
Kara erinnerte sich nur an wenige Details der Ereignisse des vorhergehenden Abends, er wusste nicht mehr viel von den Polizisten, die ihm zu Hilfe gekommen waren, oder der Fahrt ins Krankenhaus. Das Dach des Krankenwagens war grau gewesen, und er hatte sich vorgenommen, nie wieder etwas Graues anzuziehen. So verwirrt war er bisher nur selten gewesen.
An einer Bushaltestelle hing ein Werbeplakat eines Museums: Der Tod von König George II. jährte sich zum zweihundertfünfzigsten Mal.
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