Weiss
genau in dieses Schloss passte.
Es war Mittag, noch zwei Stunden, dann hatte er die Schicht hinter sich gebracht. Er wollte seine Sachen packen, bevor Yvonne aus der Boutique nach Hause kam, denn er hatte nicht die geringste Lust, mit ihr über seine Entscheidung zu diskutieren. Zumindest ein paar Nächte dürfte er in Alains Bude schlafen, vielleicht reichte das, und er fand in der Zeit eine vorübergehendeBleibe zur Miete. In Paris war alles sauteuer, aber das dürfte diesen Gilbert Birou kaum interessieren. Wer im siebenten Arrondissement wohnte, in der Avenue du Docteur Brouardel am Rande des Champ de Mars, und fast eine ganze Etage in einem tollen alten Haus besaß, der litt wahrscheinlich nicht unter Mangel an Kleingeld.
»Was hat denn dieser Birou angestellt?«, fragte der Hausmeister, während er den x-ten Schlüssel probierte.
»Er ist nicht an seinem Arbeitsplatz in Wien erschienen. Anscheinend ist es irgendein hohes Tier, sonst würde man ja nicht so schnell nach ihm suchen.«
Der Hausmeister jubelte, als die Tür endlich aufging, und wollte gerade die Schwelle überschreiten, doch Wachtmeister Moreau hielt ihn an der Schulter zurück. »Sie warten hier im Hausflur.«
Moreau klopfte und wiederholte mehrmals Gilbert Birous Namen, bevor er die Diele betrat. Ihm wurde klar, dass er sich in einer Wohnung befand, die für einen unter chronischem Geldmangel leidenden Polizisten wie ein Paradies wirkte. Überall waren wertvolle Gegenstände zu sehen, Schalen, Vasen aus Glas und Porzellan, Gold … Er beschloss, einen Rundgang durch alle Zimmer zu machen und etwas Wertvolles zu stehlen, etwas, das mühelos in die Tasche passte und sich leicht verkaufen ließ. Dann wäre er seine Geldsorgen für lange Zeit los. Plötzlich nahm er einen Geruch wahr, der nicht in die Wohnung zu passen schien und ihn an irgendetwas erinnerte, aber ihm fiel nicht ein, an was.
Moreau ging von einem Zimmer zum anderen und war nun überzeugt, dass Birou eine Art Sammler sein musste, warum hätte er sonst jeden Winkel seines Zuhauses mit kostbaren Schmuckgegenständen vollgestellt. Die Quelle des üblen Geruchs war nicht zu finden, der Gestank musste aus der Küche stammen.
Der Mülleimer in der perfekt sauberen, strahlend weißen Küche war leer, stellte Moreau fest. Er kehrte in die Diele zurück,überprüfte das Schlafzimmer und das Bad und griff nach der Klinke der letzten Tür. Abgeschlossen. Hier wurde der Geruch stärker. Er klopfte laut und rief ein paarmal Birous Namen.
Benoît Moreau drückte die Klinke und stieß mit der Schulter gegen die Tür, sie wackelte, und das Schloss klirrte. Dafür musste man kein sonderlicher Muskelprotz sein. Er ging einen Schritt zurück und trat gegen die Tür. Der Rahmen krachte, die Tür flog auf, und Moreau erschrak so sehr, dass ihm ein seltsames Röcheln entfuhr. Halb über dem Spiegeltisch lag die Leiche einer Frau. Der Chef hatte doch gesagt, dass Birou allein wohnte.
Moreau begriff, dass er ein Boudoir betreten hatte. In einem derart kitschig eingerichteten Raum war er noch nie gewesen, überall nur rosa und purpurrot. Er näherte sich vorsichtig der Leiche und sah nun, woher der Geruch in der Wohnung stammte: Auf dem Tisch standen zwei Teller, das Essen war verdorben: Kartoffeln mit Fisch.
Bei dieser Kundin brauchte man gar nicht erst den Puls zu messen, die Frau war tot wie ein Stein: Flecken im Gesicht und an den Händen, die Haut fühlte sich kühl an und die Augen starrten ausdruckslos ins Leere. Verdammt noch mal, sie hatte ja Bartstoppeln.
Auf dem Tisch stand ein gerahmtes, altes Farbfoto eines Schuljungen, daneben lagen ein handgeschriebener Brief, eine Injektionsnadel und eine leere Ampulle mit der Aufschrift »T 61«. Man durfte nichts berühren, das wusste Moreau, aber den Brief könnte er lesen, ohne dass es jemand bemerkte. Er war an den französischen Nachrichtendienst adressiert.
Nachdem ich in meinem Privatleben in eine totale Sackgasse geraten bin, habe ich mich entschlossen, eine persönliche Entscheidung zu treffen, um der öffentlichen Schande zu entgehen. Verbunden mit meinem Ableben gebe ich den Behörden bestimmte Dinge zur Kenntnis, die für die Sicherheit Frankreichs von Bedeutung sind.
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