Weiss
einige kleine Bruchstücke aus der Zeit der dramatischen Tage, die er im Oktober 1989 erlebt hat, ist jedoch nicht fähig, diese Erinnerungen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Außerdem leidet der Patient unter einer »Inkontinenz im Gefühlsleben«, was sich in einem unberechenbaren, gewalttätigen Verhalten sowie im Überreagieren selbst auf geringfügige Widrigkeiten äußert.
Kara stand aus seinem abgewetzten Sessel auf, warf die Gutachten auf den Küchentisch, holte die Landjäger-Wurst aus dem Kühlschrank und trat hinaus auf seinen kleinen Balkon. Er setzte sich auf einen Hocker und betrachtete das vertraute Bild: schimmernde Lichter auf der Donau und der Donauinsel, dem Vergnügungspark mitten auf dem Fluss. Doch in seinem Kopf hämmerte nur ein Gedanke: Die Wiederherstellung des Gedächtnisses könnte seinen Zustand verschlechtern.
Plötzlich packte ihn die Wut, er stieß den Hocker weg, marschierte ins Wohnzimmer und schaute sich um. Es war genauso leer wie sein Leben. Nur ein paar Möbelstücke, kein einziges Bild,kein Teppich, nichts Dekoratives, von Fotos ganz zu schweigen. Er besaß nichts Überflüssiges, nichts, was Erinnerungen aufkommen ließ oder für Gemütlichkeit sorgte. Sein einziger Lebensinhalt bestand darin, mit der Vergangenheit fertig zu werden. So konnte das nicht ewig weitergehen.
Kara goss sich Linie-Aquavit ein, bis der Boden des Glases zwei Zentimeter hoch bedeckt war, und blieb vor seinem DVD-Regal stehen. Diesmal fiel ihm die Auswahl aus den tausendsechshundert Filmen leicht – Memento, einer der wenigen Filme, die den Gedächtnisverlust richtig darstellten. Die Hauptfigur erkrankt an einer fortschreitenden Amnesie, sie verliert die Fähigkeit, neue Erinnerungen zu bilden, und muss alles, was sie erlebt, auf Zettel schreiben oder sich die Informationen auf die Haut tätowieren.
Er schaltete den Fernseher und den Blu-Ray-Player ein. Es war wieder einmal Zeit, der Wirklichkeit zu entfliehen. Ihm war nun bereits klar, dass er herausfinden wollte, was mit seiner Schwester, seinem Vater und seiner Mutter geschehen war. Wer dafür die Verantwortung trug. Vielleicht verschaffte ihm das Wissen um die Wahrheit Erleichterung, vielleicht auch nicht, das würde sich in Kürze herausstellen. Seine Entscheidung war nun gefallen, und er brachte immer zu Ende, was er anfing.
6
Donnerstag, 12. August
»Warum lässt du mich diese Bude nicht einrichten, wenn du selber zu faul bist?«, fragte Nadine Egger, die nackt in der Schlafzimmertür stand und ihre Haare trocknete. Sie war früh um acht bei Kara erschienen, um ihn zu besuchen.
»Die ist doch eingerichtet, ich mag den minimalistischen Stil«, witzelte Kara. Er hatte keine Lust, ihr zu erklären, dass er sich gar nicht wie in einem gemütlichen Zuhause fühlen wollte.
Als Nadine ihre Armbanduhr anlegte, hatte sie es plötzlich sehr eilig. »Ich müsste schon im ›Hansy‹ sein, unsere morgendliche Nummer zieht sich seit einiger Zeit zu sehr in die Länge. Jetzt herrscht im ›Hansy‹ beim Frühstück gerade Hochbetrieb.«
»Das Lokal gehört dir aber doch.«
»Eben deswegen. Du weißt ja, wie motiviert Walter und die anderen bei der Arbeit sind, wenn man nicht vor Ort mit Argusaugen aufpasst.«
Solche Sprüche hörte Kara nicht zum ersten Mal. Er zog die Unterhose über sein halbsteifes Glied und fuhr in die Jeans.
Nadine gab ihm einen Schmatz auf die Wange, eilte zur Wohnungstür und stürmte die Treppe hinunter.
Kara hatte leichte Kopfschmerzen, die nicht von dem Aquavit herrührten, den er am Vorabend zum Film Memento getrunken hatte, sondern vom Ballast der Vergangenheit. Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne und entdeckte an den Schläfen noch mehr graue Haare.
Es war Zeit, Betha Gilmartin anzurufen, seine Ersatzmutter, die allerdings nach den Jahrzehnten in der von Männern beherrschtenWelt der Nachrichtendienste nicht sehr viele mütterliche Wesenszüge aufwies. Sie hatten sich vor etwa zwanzig Jahren bei den Ermittlungen Bethas und des SIS zur Tragödie seiner Familie kennengelernt und seitdem engen Kontakt gehalten.
»Verdammt nett, von dir zu hören, Leo. Es ist ja auch schon früh um acht. Hast du mich wegen der Ermittlungen zum Iridium geweckt oder nur so aus Spaß?«, frotzelte Betha.
»Entschuldige, ich hab gar nicht daran gedacht, dass es in London tatsächlich noch so früh ist. Und du schläfst ja immer mindestens bis um neun.«
»Weil sich auch die Arbeit fast immer bis um neun hinzieht«, klagte Betha.
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