Weiss
das Kind. Sie mussten möglichst schnellnach Hause, nach Finnland, zurückkehren und einen erstklassigen Psychologen aufsuchen.
Plötzlich stellte sich ein korrekt gekleideter graubärtiger Mann hinter das Mädchen und legte seine Hände auf dessen Schultern. Mit der Geste markierte er sofort sein Revier.
»Mogu li da vam?«,
fragte er.
»Warte in aller Ruhe einen Augenblick«, sagte Kati Soisalo zu Vilma und erhob sich. »Meine Tochter ist vor drei Jahren verschwunden … entführt worden«, sagte sie auf Englisch. Währenddessen versammelten sich um sie herum weitere Erwachsene, sie fühlte sich bedroht.
»Solche Dinge sind wohl eher Sache der Polizei«, erwiderte der Bärtige in gutem Englisch, sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt besorgt. Er nahm eine Hand des Mädchens und zog es näher an sich heran.
»Sie verstehen nicht. Ich habe meine Tochter gefunden, das hier ist sie«, erklärte Kati Soisalo und zeigte auf das Mädchen. »Sie erinnert sich nicht mehr an mich, anscheinend hat sie auch ihre Muttersprache vergessen.«
Der Mann musterte sie einen Augenblick. »Dieses Kind ist meine Tochter Jovana. Alle Umstehenden hier können das bezeugen. Sie kennen das Mädchen seit seiner Geburt.«
»Wollen Sie damit behaupten, dass ich meine eigene Tochter nicht erkenne?« Kati Soisalos Stimme wurde lauter. Sie hörte, wie jemand das Wort
policiju
sagte.
»Sie machen einen gestressten Eindruck. Drei Jahre sind eine lange Zeit, sicher möchten Sie in diesem Mädchen Ihre Tochter sehen. In drei Jahren verändern sich Kinder enorm. Aber ich kann Ihnen versichern, dass dieses Mädchen Jovana Vesović ist, daran besteht keinerlei Zweifel.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Kati Soisalo und hockte sich hin. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ihre Augen wurden feucht. Sie fühlte sich schwach. Auf einmal hatte dasMädchen irgendwie ein schmaleres Gesicht und sein Kinn war spitzer als eben noch. Und auch die Ohren waren wohl nicht die ihrer Tochter. Das Bild Vilmas entfernte sich, sie vermochte es nicht festzuhalten. Das Gefühl, das sie nach einer jahrelangen Pause für einen Augenblick wieder empfinden durfte, verschwand mehr und mehr.
Kati Soisalo stand auf und versuchte den Vater des Mädchens anzulächeln. Sie wollte nur noch weg hier. Und der Hamburger musste bezahlt werden. Was sollte sie diesen Menschen sagen? Alle schauten sie voller Mitleid an.
***
Ein ganz normaler Freitagabend im Oktober. Ich schaue auf den Kalender an der Wand, auf dem Vater alle Freitage mit rotem Filzstift angestrichen hat, der Mann tickt nicht ganz richtig. Jetzt steht wieder die obligatorische vorprogrammierte Familienzeit auf dem Plan, an der Reihe ist gerade das Abendessen, bei dem alle zusammensitzen. Ich schaue auf die Ziffern und Buchstaben – 1989, Oktober, Freitag, der 13. …
Es ist in dieser Woche das erste gemeinsame Essen der ganzen Familie am Tisch im Speisezimmer. Man sieht auf der Tischdecke immer noch den Soßenfleck, als ich gekleckert habe. Mutters Lammbraten riecht so wie immer, und Vater, der angespannt wirkt, trinkt seinen ersten Wodka. Emma ist auf hysterische Weise fröhlich und plappert in einem fort, Zehnjährige sind anstrengend. Und ich empfinde komischerweise fast so etwas wie Zufriedenheit, obwohl sich Vater und Mutter in den letzten Tagen noch heftiger als sonst gestritten haben. Dieses Freitagabendessen ist eine blöde Tradition. Aber die Wochenenden bringen wenigstens etwas Abwechslung in die eintönige Zeit zwischen Sommerferien und Weihnachten. Vater redet wieder mal über seine Arbeit, das macht er immer, obwohl keiner hinhört. Niemand versteht sein Geschwafel über technische Dinge.
Urplötzlich zerspringt die Fensterscheibe, verdammt, bin ich erschrocken, auch die anderen kauern sich auf den Fußboden. Emma schreit, als noch ein zweites Fenster klirrt und zerbricht. Bewaffnete Männer stürmen
gleichzeitig ins Wohnzimmer und in die Küche. Vater erhebt sich, und einer der Angreifer schwingt seinen Gewehrkolben. Ein schwarz gekleideter Mann kommt auf mich zugestürzt …
Im dunklen Laderaum eines Transporters. Mit einer über das Gesicht gezogenen Kapuze fällt das Atmen schwer, Emma weint, jemand tastet nach meiner Hand und hält sie fest. Mutter. Wohin bringen die uns und warum? Im Radio erklingt ein schreckliches Liebeslied, ich muss brechen …
Ich wache auf. Meine Lippe ist aufgesprungen und das Blut zu Klumpen geronnen, die rutschen in den Mund, als ich mir die Lippen
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