Weiss
lecke. Ich spucke aus. Es ist kalt. Emma schläft auf dem Fußboden, was für eine beschissene Gefängniszelle ist das, wo sind Vater und Mutter? Die Faust tut mir weh, als ich an die Stahltür hämmere. Ich höre Schritte und weiche zurück, während der Schlüssel im Schloss umgedreht wird. Die Tür geht auf … Dieser Mann ist kein Brite, warum lächelt er, von seinen Händen tropft Blut …
Leo Kara war im Sessel eingeschlafen. Sein Kopf sackte auf die Brust und er wurde wach, gerade als das schwarze Haar, die dunklen Augen und die asiatischen Gesichtszüge von Manas so scharf wie auf einem digitalen Foto aus seinem Gedächtnis auftauchten. Wieder war in dem Alptraum eine Lücke geschlossen.
Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er denselben Traum, in stressigen Zeiten fast jede Nacht, in ruhigeren Wochen nur hin und wieder. In dem Alptraum schaute er zunächst aus einem Versteck zu, wie sein Vater gefoltert wurde. Dann folgte eine quälende Pause von einigen Minuten, anschließend kehrte der Folterer in die Verhörzelle zurück. Hier war der Alptraum bislang immer zu Ende gewesen, doch in den letzten Wochen hatte er sich verändert, Kara sah mehr und erinnerte sich an mehr. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen das vom Arzt verordnete neue Medikament Exelon zur Behandlung der Gedächtnisstörungen von Patienten mit Hirnverletzungen und zum anderen die Tatsache, dass er das Gesicht von Manas letztes Jahr im Sudan gesehen underfahren hatte, dass der Mann in den Tod seiner Familie verwickelt war. Nach Aussage der Psychiater rührte sein Gedächtnisverlust von der Verletzung des Frontallappens her, doch jetzt wusste er, dass die Erinnerungen irgendwo in den Tiefen seines Gedächtnisses noch vorhanden waren. Und warteten.
Wenn er es ernsthaft angehen würde, den Spuren von Mundus Novus zu folgen und die Ereignisse des Jahres 1989 aufzuklären, und dabei denen, die für das Schicksal seiner Familie verantwortlich waren, auch nur einen Schritt näher käme, würde sich sein Leben total verändern. Das wusste er. Er wäre nicht imstande, mittendrin aufzuhören, er würde die Schuldigen jagen, bis er sie gefasst hatte, selbst wenn er sein ganzes restliches Leben dafür brauchte. Diese Verfolgungsjagd würde entweder für ihn ein schlechtes Ende nehmen, was die wahrscheinlichste Alternative war, oder sie würde dazu führen, dass er die Wahrheit erfuhr. Das wiederum würde ihm nach Ansicht der Psychiater vermutlich den Verstand rauben. Die Weißkittel hielten es für möglich, dass er im Oktober 1989 etwas erlebt hatte, was derart schockierend war, dass sein Gedächtnis die Ereignisse aus seinem Bewusstsein herausgefiltert hatte, um ihn zu schützen.
Kara holte aus dem obersten Fach des Kleiderschrankes eine Mappe, die er jahrelang nicht geöffnet hatte, und suchte die psychiatrischen Gutachten zu seinem Fall aus den Jahren 1989 und 1992 heraus. Er war nur zweimal zu Gesprächen mit den Seelenklempnern bereit gewesen, direkt nach den entsetzlichen Tagen, und beim zweiten Mal hatte Betha ihn halb gezwungen, sich untersuchen zu lassen, nachdem er einen Schulkameraden misshandelt hatte. Der erste Psychiater war ein dünner Mann mit kleinen Augen gewesen, der nur geflüstert hatte, und der zweite eine Frau mit gelocktem Haar und einem Flaum auf der Oberlippe. Er erinnerte sich an ihre Gesichter, als würde er sie vor sich sehen. Gut, dass wenigstens ein Teilbereich seines Gedächtnisses glänzend funktionierte.
Kara fand, was er suchte:
Die Rückkehr von Erinnerungen an extrem traumatische Erlebnisse ist nicht in allen Fällen wünschenswert. Am Institut für Psychologie der Universität Glasgow wurden während der letzten zehn Jahre sechsundvierzig Patienten untersucht, die äußerst traumatische Erinnerungen zurückgewonnen hatten. Sie waren alle noch drei Jahre, nachdem die ersten Erinnerungen wieder aufgetaucht waren, in einer Therapie. Vor der Wiederherstellung des Gedächtnisses zeigten sich nur bei zehn Prozent der Patienten selbstzerstörerische Gedanken oder Taten, danach bei siebenundsechzig Prozent. Vor der Wiederherstellung des Gedächtnisses hatten sich zehn Prozent einer stationären Behandlung unterziehen müssen, danach siebenunddreißig Prozent. Bei allen Patienten wurde über zunehmende Probleme in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen berichtet …
Im Bericht des anderen Psychiaters hatte er nur eine Stelle unterstrichen.
Der Patient ist an einer selektiven Amnesie erkrankt, er erinnert sich an
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