Weiss
holte den anonymen Brief aus seiner Gesäßtasche und reichte ihn Kati Soisalo.
Die brauchte nicht lange, um den Zettel zu lesen. »Wer hat das geschrieben?«
»Da gibt es nicht viele Möglichkeiten. Der Verfasser des Briefes muss in dem Auto gewesen sein, mit dem man uns in Vaters Forschungsinstitut gebracht hat. Aber ich verstehe absolut nicht, warum einer der Mörder meiner Familie mich warnen möchte.«
»Vielleicht bereut es einer von ihnen. Oder ist auf die richtige Seite des Gesetzes übergewechselt. In zwanzig Jahren kann alles Mögliche passieren.«
»Und Kühe können fliegen!«, brüllte Kara.
Kati Soisalo erschrak, obwohl sie den Grund für Karas unberechenbares Verhalten kannte.
»Entschuldige«, sagte er und schaute mit betretener Miene auf den Tisch. »Aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass eine dieser Bestien die Seite gewechselt hat. Schließlich haben sie drei Morde begangen. Und auch mich wollten sie umbringen.«
»Erzähl etwas von ihnen, von deinen Eltern«, bat Kati Soisalo.
Kara trank einen Schluck Wein. »Meine Mutter hieß Molly, Molly Dalston. Geboren wurde sie in Carlisle, im äußersten Nordwesten Englands, etwa zwanzig Kilometer von der schottischen Grenze entfernt. Sie hat wahrscheinlich eine ganz normale Kindheit gehabt und sich schon früh für Sprachen interessiert, Finnisch hat sie nach ihren eigenen Worten deshalb fasziniert, weil Tolkien es als Vorbild für die von ihm erschaffene Elbensprache in ›Der Herr der Ringe‹ benutzt hat.«
»Wirklich?«, fragte Kati Soisalo, während sie die Bratpfanne auf den Tisch stellte, Teller und Besteck folgten.
»Mutter hat am University College in London Finnisch studiert und ist natürlich oft hier gewesen, um vor Ort fleißig die Sprache zu lernen. Auf einer ihrer Reisen hat sie Vater kennengelernt und ist dann, als sie ihr Studium abgeschlossen hatte, hier geblieben und hat an verschiedenen Schulen oder anderen Einrichtungen Englisch unterrichtet. Sie hat, glaube ich, auch zwei, drei Bücher für irgendwelche kleinen Verlage übersetzt.«
»Seid ihr dann wegen deiner Mutter nach London gezogen?«
»Nein, natürlich wegen der Arbeit meines Vaters«, antwortete Kara und konzentrierte sich auf seine Pasta. »Und es gab wohl auch andere Gründe. Genau weiß ich das nicht, ich war damals zehn. Soweit ich mich erinnere, sind Vater und Mutter nie richtig miteinander klargekommen, sie haben sich die ganze Zeit gestritten. Vater war selten zu Hause, Mutter musste uns so gut wie allein erziehen. Aber Emma war Vaters Liebling.«
Kati Soisalo erhob ihr Weinglas und schaute Kara an. »Auf welchem Gebiet hat dein Vater geforscht?«
»Er war Doktor der technischen Wissenschaften. Als junger Mann hat er in Bell’s Laboratories in New Jersey gearbeitet, das ist wahrscheinlich die renommierteste Forschungseinrichtung der Welt. Dann in Finnland im Kältelabor und am Physik-Institut der Technischen Hochschule in Espoo, bis er schließlich als Leiter einer Forschungsgruppe nach London gegangen ist. Um die Welt zu verbessern, hat er behauptet.«
Kati Soisalo runzelte die Stirn.
»Erklärt hat er das nicht. Vater war so ein Weltverbesserer, er hat immer über die Weltpolitik und den Imperialismus und die Unterdrückung der Völker palavert. Und eigenartig war er auch sonst.«
»Wieso?«
Kara lachte trocken. »Vater merkte sich alles. Beispielsweise auch, wie viele Schritte er im Urlaub zehn Jahre zuvor in Florenz vom Tisch im Restaurant zur Toilette gegangen war. Er rechneteeine Quadratwurzel genauso schnell aus wie ein Taschenrechner und konnte tausende Dezimalstellen der Pi-Zahl behalten. Doch es wusste kaum jemand von diesem Gedächtniswunder, Vater wollte nicht als Freak abgestempelt werden.«
Kati Soisalo legte die Gabel auf den leeren Teller und klopfte auf ihren Bauch. »Was mag das für ein Gefühl sein?«
»Vermutlich gar keins. Bei meinem Gedächtnis gibt es auch eine leichte Abweichung. Ich beherrsche elf Sprachen, oder jetzt eigentlich zwölf, weil ich in Afghanistan die Grundkenntnisse des Paschtunischen erlernt habe.«
»Bei dir findet man ständig neue merkwürdige Eigenschaften.« Kati Soisalo lachte, obwohl sie es genau so meinte, wie sie es gesagt hatte.
»Das hört sich so an, als wäre es etwas Besonderes, ist es aber nicht. Ich lerne seit fünfundzwanzig Jahren Sprachen, erst in der Schule und dann im Beruf und bei der Arbeit in verschiedenen Ländern. Da entsteht ein bestimmtes System für das Erlernen von
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