Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
geöffnet. Ungläubige Beobachterinnen hatten sich überzeugt, auch recht gesehen zu haben. Das junge Mädchen hatte sich dann umgedreht, um die Nachbarin höflich zu grüßen. Anne kannte die Gewohnheit der Dorfbewohner zur Genüge, über jede Kleinigkeit zu klatschten, Vermutungen hinzuzufügen und blumig auszuschmücken, so dass sich Nichtigkeiten zu Neuigkeiten aufbauschen ließen. Noch heute Mittag hatte sie gemeinsam mit annähernd gleichaltrigen Mädchen der so beliebten Beschäftigung gefrönt. Selbstredend hatte sie da noch nicht geahnt, bereits am nächsten Tag im Mittelpunkt solchen Klatsches zu stehen. Anne wendete sich ab und gab Adam mit verdrehten Augen zu verstehen, wie sehr sie die Angelegenheit nerve.
An der Haustür achtete sie darauf, ihn ja keinen Schritt über die elterliche Schwelle setzen zu lassen. Beide standen noch unschlüssig herum, während Lisa bereits in die Küche geflitzt war. Anne wollte Helene übernehmen, die Schwierigkeit bestand nur darin, die Kleine nicht aufzuwecken.
Adam beugte sich geschickt zu Anne hinunter, ließ das schlafende Bündel sanft in ihre Arme gleiten. Wie zufällig berührten sich ihre Hände. Fürsorglich umfasste Anne den schlaffen Kinderkörper und schaute zu Adam auf. Wieder begegnete sie seinem blauen Blick, doch diesmal überraschte sie sich dabei, den Moment der Nähe zu genießen.
„Na, ich werd dann mal nach Hause gehen. Sehen wir uns morgen bei der Ernte?“
Beide wussten, seine Frage sei überflüssig. Für die nächsten Wochen beherrschte die Kornmahd alle Arbeit auf dem Gut.
„Wenn wir inzwischen nicht tot umfallen, wird es wohl so sein“, konterte Anne keck. Ihr verschmitzter Gesichtsausdruck verriet jedoch, die Bemerkung sei nicht abweisend gemeint.
Er lüftete seine Mütze und trollte sich mit dem Lächeln, das Anne gegolten hatte.
Anne wiegte Helene sanft hin und her. Sie schaute Adam sinnend nach, trat aber einen Schritt zurück ins Haus, als er sich anschickte, noch einmal zurückzusehen.
Die häusliche Umgebung erinnerte sie an ihre Pflichten und ihr geheimes Versprechen. Vorsichtig trug sie Helene die steile Stiege nach oben und bettete die Kleine, so wie sie war, in die groben Kissen. Sie betrachtete das pausbäckige Mädchen, dessen Wangen von Sonne und Schlaf gerötet waren und stellte sich vor, in naher Zukunft noch ein kleineres Würmchen mit umsorgen zu helfen. Die Kate der Jessens würde wieder einmal vom Geschrei eines zahnlosen Säuglings angefüllt sein. Kein Bewohner konnte sich dem fordernden Gebrüll entziehen und so passierte es manchmal, dass sich die vollzählige Familie um die Wiege scharte und besorgt das Gedeihen oder Nichtgedeihen des Kindes verfolgte. Anne erschauerte bei dem Gedanken, weil auf dem Kirchhof auch zwei ihrer Geschwisterchen lagen. Keines hatte die ersten vier Monate seines Daseins überlebt.
Anne hatte ihre schweren Holzpantinen unten stehen gelassen und stieg nun vorsichtig, um sich nicht die Zehen anzustoßen, die steile Treppe rückwärts hinunter. Im Garten wusch sie sich an einer nur noch halb gefüllten Regentonne den Staub des Arbeitstages von Gesicht und Händen. Sie hielt sich nicht lange damit auf, schichtete Holzscheite auf den offenen Herd der Küche, über dem der Kochkessel hing, und machte mit Hilfe einiger Kienspäne Feuer. Den Jessens diente ein kleiner fensterloser Raum als Speisekammer, der trotz sommerlicher Hitze immer angenehm kühl blieb. Dort stand ein Steinguttopf mit Linsensuppe, die schon am Vortag gekocht worden war. Anne kippte sie in den Kessel und rührte noch etwas Wasser unter die dicke Suppe, damit die zähflüssige Masse nicht gleich anbrenne. Die Flüssigkeit reduzierte sich durch die Hitze sehr rasch. Schon bald entstieg dem Kochkessel köstlicher Duft. Die Flammen des Herdfeuers umspielten ihn von allen Seiten und ließen Speisen sehr schnell heiß beziehungsweise gar werden.
Auf dem großen Küchentisch der Familie gesellte sie zu irdenen Tellern die vom Vater geschnitzten hölzernen Löffel, holte den Roggenschrotbrotlaib aus dem Steinguttopf hervor und legte ihn zum Aufschneiden bereit. Der Laib selbst wurde erst am Tisch und immer nur so weit aufgeschnitten, wie Esser nach Brot verlangten. Anne schöpfte noch Bier in einen Krug und stellte dabei fest, Mutter müsse bald wieder Brotmaische für Obergäriges ansetzen.
Zwischendurch schaute sie sich nach Lisa um, von der verdächtigerweise kein Gackern und Kreischen zu hören war. Anne entdeckte die
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