Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Besten zu geben. Sogar die beiden erwachsenen Söhne kuschten vor ihm und versuchten sich möglichst unauffällig zu benehmen. Nicht auffallen hieß ihre Devise, um den urplötzlich aufkeimenden Zorn des Vaters nicht heraufzubeschwören.
Anne erinnerte sich unvermittelt an eine solche Begebenheit. Sie war damals zwar noch sehr klein gewesen, aber das Erlebnis hatte sie mitgenommen, es hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Damals schlug der Vater seinem ältesten Sohn, der seinerzeit noch ein Knabe war, ohne jede Vorwarnung mit einem Löffel auf ein Auge, und das nur, weil er meinte, der Junge habe zu schnell gegessen.
Sie vermisste den Bruder schmerzlich, der vor drei Jahren seine Landarbeiterkluft gegen einen Soldatenrock getauscht hatte. Er entkam mit seinem Entschluss – freiwillig in den Krieg zu ziehen – nicht nur dem entbehrungsreichen Landarbeiterleben, sondern auch dem prügelnden Vater. Er bezahlte die Freiheit teuer, er kehrte nicht zur Familie zurück. Anne teilte jedoch Mutters Hoffnung, er sei nicht tot, sondern führe fern der Heimat ein munteres Leben, werde sich eines Tages vielleicht aus Amerika melden.
Aber die traurige Geschichte hatte auch etwas Gutes bewirkt. Von Stund an schlug der alte Jessen die Kinder, die ihm geblieben waren, nicht mehr. Der Schock des Verlustes hatte ihn offenbar zur Vernunft gebracht.
Anne schulte zur Mutter hinüber, die mit gesenktem Kopf ihren Eintopf auslöffelte.
Sie plagten einmal mehr Zweifel, ob der Vater auch seine Frau in den Verzicht körperlicher Züchtigung mit einbezog.
Die Mahlzeit war rasch beendet. Wortlos legte Anne ihrem Vater eine zerfledderte Zeitung auf den Tisch. Ein Nachbar hatte das Blatt vorbeigebracht. Dabei spielte es keine Rolle, ob es zwei Wochen alt war. Seine Meldungen blieben auf Hohen-Lützow noch mindestens zwei weitere Wochen brandaktuell. Der alte Jessen stopfte sich sein Pfeifchen und verzog sich mit seiner Lektüre auf die Bank neben der Eingangstür. Die Brüder entfernten sich ebenfalls. Sie mussten noch die Sensen dengeln, sonst würden sich die Nachbarn das Maul über ihre Faulheit zerreißen. Frau Jessen rührte im Eintopf für den nächsten Tag, für Anne blieb der Abwasch. Allein Lisa saß müßig am Tisch und ließ ihre Beinchen von dem hohen Stuhl baumeln.
Anne fachte das Feuer an, um im größten Kessel der Familie Wasser heiß zu machen.
„Mein Gott, Kind! Was hast du mit dem vielen Wasser vor, du vergeudest nur Feuerholz“, rügte ihre Mutter.
„Ein Viertel ist für den Abwasch und der Rest für ein Fußbad. Für deine Füße ist das Brennholz gut angelegt“, entgegnete Anne. Sie summte eine kleine Melodie und bemerkte, völlig anderer Stimmung zu sein als gestern. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie auch ihre Mutter lächelte.
Frau Jessen hatte die Faust mit dem Kochlöffel auf ihren hervorspringenden Bauch gestützt und schaute Anne liebevoll an. „Was hätte ich schon vom Leben ohne die Freude an meinen Kindern“, stellte sie fest.
Anne überlegte, ob Mutters Bemerkung die Erklärung dafür sei, dass alle Eheleute, die sie kannte, pausenlos Kinder in die Welt setzten. Vielleicht ergab sich bei dem Gespräch mit der Mutter noch eine Gelegenheit, auch dieses Thema anzusprechen.
Aber zuerst musste die Küche in Ordnung gebracht werden. Den geschwärzten Suppenkessel schruppte sie draußen so lange mit Sand ab, bis er nicht mehr abfärbte. Mit dem Geschirr hielt sie sich nicht auf. Als die Teller im Wandbord verstaut waren, wirbelte sie herum. „Wo möchtest du dein Fußbad nehmen? Draußen im Garten ist es noch recht schön“, meinte sie.
„Wenn Vater nichts dagegen hat“, schränkte Frau Jessen ein.
Anne kannte Mutters Angst vor dem Jähzorn des Familienoberhauptes und hatte kein Verständnis für seine kleinlichen Nörgeleien. „Was soll er denn dagegen haben“, wandte sie ein. „Wir stören doch niemanden mit dem kleinen Bottich.“ Demonstrativ schöpfte sie heißes Wasser in den Waschtrog, schaffte noch einen Stuhl hinaus, legte Waschbürste, Seife und Bimsstein zurecht, ebenso ein grobes dunkles Handtuch und lud ihre Mutter ein, das improvisierte Badehaus in Anspruch zu nehmen.
Frau Jessen war gerührt von Annes Aufmerksamkeit. Sie spülte ihre schmutzigen Füße mit Regenwasser ab, nahm auf dem Stuhl Platz und versuchte ihre geschwollenen und vom Stroh zerkratzten Füße einzutauchen. Sofort zuckte sie vor dem heißen Wasser zurück.
„Versuch es mit den Hacken
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