Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
erweckte den Eindruck, am vielstimmigen nachmittäglichen Plausch der Arbeiter, die im Schatten einer Weißdornhecke beieinandersaßen, Gefallen zu finden. War ihr aufkeimendes Interesse am Dorfleben, an ihren Mitmenschen, ein erster Schritt in Richtung Normalität?
Doch was war normal? In den letzten acht Jahren hatte Eleonore begreifen müssen, Maries Normalität bestehe in einer Loslösung von der Wirklichkeit. Das Mädchen hatte die eigene Stimme vergessen, vermutlich damit es das, was es erlebt hatte, nicht in Worte fassen zu müssen. Marie hatte sich verweigert, egal, ob die eigene Mutter, der Vater, der Pastor, der Arzt oder Elisabeth sie bedrängt hatten, doch bitte zu erzählen, was vorgefallen sei. Schließlich hatten alle resigniert aufgegeben, etwas aus ihr herauszubringen. Marie hatte ihren Frieden in sich selbst gefunden. Eleonore Hagen hatte es lernen müssen, diese Tatsache anzunehmen.
Die junge Frau, Marie war inzwischen über zwanzig Jahre alt, hatte die Puppe auf dem Schoß und lächelte in die Menge. Aber der entrückte Ausdruck, der ihr sonst eigen war, fehlte in ihrem regelmäßigen Gesicht. Eleonores Augen folgten dem Blick der Tochter, der an Anne Jessen hängen geblieben war.
Anne saß zusammen mit Frauen und Mädchen. Sie schnatterte unbekümmert mit ihrer Nachbarin, kaute zwischendurch an einem Schmalzbrot und biss dann herzhaft in einen Sommerapfel. Gleich darauf verzog sie das Gesicht zu einer Schnute. Die anderen Mädchen lachten über ihre Grimasse und boten ihr Bier an, damit sie den Geschmack fortspülen könne.
Marie schien fasziniert zu sein. Als habe sie mit ihrem Willen das andere Mädchen beschworen, trafen sich die Blicke der beiden.
Anne zuckte zusammen, zuerst dachte sie an eine Erscheinung, so ungewöhnlich erschien es ihr, Marie auf dem Wagen zu sehen. Dann begriff sie, die junge Frau sitze wirklich dort oben. Anne lächelte –etwas verlegen über ihren ersten Eindruck.
Eleonore beobachtete erregt das Geschehen und machte sich ihre eigenen Gedanken. Marie hatte Anne eindeutig wiedererkannt, anders war das Verhalten ihrer Tochter nicht zu erklären. Vielleicht war ja Anne der Schlüssel zu Maries Seele? Konnte das Mädchen Marie aus ihrem selbst gewählten Gefängnis befreien? Frau Hagen nickte Anne freundlich zu, als sie bemerkte, sie sehe auch zu ihr herüber.
Der Vorschnitter stand auf und gab damit das Zeichen zur Beendigung der Mahlzeit. Die Steingutflaschen wurden eingesammelt und die Überreste der Brotzeit zusammengetragen. Das Gespann wendete bereits. Während Anne auf dem Weg zu ihrem Platz in der Kolonne war, fühlte sie Maries Blick im Rücken. Sie wollte sich nicht umdrehen und als sie es dennoch tat, winkte ihr die Stumme mit der Puppe. Anne war es peinlich, Aufmerksamkeit von einer Irren zu erhalten, aber sie wollte ihr auch nicht vor den Kopf stoßen, deshalb winkte sie zurück, um sich dann schnell wieder an die Arbeit zu machen.
Heute Abend, dachte sie beim Garbenbinden, werde ich Mutter verwöhnen und sie bei der Gelegenheit über Marie ausquetschen.
Müde, verschwitzt und eingestaubt saß Anne auf dem Pritschenwagen und überließ sich mit hängenden Schultern dem Gerüttel des Fuhrwerks. Die unbeschlagenen Räder rumpelten über den Feldweg in Richtung Dorf. Das Mädchen hatte noch Muße, auf den abgeernteten Teil des Schlages zurückzublicken, empfand auch ein bisschen Stolz, an dem beeindruckenden Tagwerk Anteil zu haben. Auf dem Stoppelacker standen unzählige Hocken in Reih und Glied, die, vorausgesetzt das Wetter bliebe weiterhin trocken, in einer Woche eingefahren werden sollten. Anne redete sich ein, das Binden ginge ihr morgen leichter von der Hand, denn die Arbeit würde sie, wie alle anderen Frauen auch, die nächsten sechs bis acht Wochen beschäftigen.
Der Staub verschluckte die Gestalt ihrer Mutter, die mit Rücksicht auf ihren Zustand die „Bequemlichkeit“, mit einem ungefederten Wagen gefahren zu werden, ausgeschlagen hatte. Vater ging neben ihr in der langen Reihe der Schnitter, die die Sensen jeweils geschultert hatten. Anne dachte daran, dass Vater oder ihre Brüder heute Abend noch ihr Werkzeug dengeln mussten. Im Dorf würden überall die Schläge der Dengeleisen erklingen, mit denen der Stahl der Sensen im Bereich der Schneide dünn geklopft wurde, damit er am nächsten Tag wieder scharf durch das Getreide rausche.
Sie überlegte sich die Reihenfolge ihrer Erledigungen. Zuerst wollte sie ihre kleinen Schwestern
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