Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Besinnung bedauerte er, den Empfehlungen seines Lehrers nicht gefolgt zu sein.
Nun – daran war nichts mehr zu ändern. Verdrossen wischte er die Erinnerungen fort, die ihm bei der Suche nach Johann nicht weiterhelfen konnten. Er fuhr mit den Fingern über die Augen, die er bei trübem Licht über Gebühr strapaziert hatte. Bisher hatte er den gesichteten Papieren das Geheimnis um Johanns Verschwinden nicht entlocken können. Doch er mochte nicht aufgeben, zu sehr fürchtete er, schon morgen nähme Kommissär Goltzow die Informationsquellen für polizeiliche Ermittlungen in Beschlag, entziehe sie damit dem eigenen Zugriff. Deshalb nahm er sich das nächste Blatt vor, prüfte zuerst Datum und Absender. Zur besseren Übersicht hatte er sich eine Liste angefertigt. Die jeweiligen Eckdaten trug er akribisch ein.
Es war nicht zu verhindern – die Gestalt Frieder Küfers geisterte durch den schummrig erleuchteten Raum. Jeder, den er bisher nach Küfer gefragt hatte, und jeder, der von dem jungen Mann sprach, beschrieb ihn als bedauernswürdiges Geschöpf. Selbst Johann hatte in seinem letzten Brief ein solches Bild von seinem Kommilitonen gezeichnet.
Ernst durfte nicht darüber sprechen, woran Küfer litt. Die Wirtin kannte Johanns Freund zwar nicht beim Namen, aber ihre Beschreibung passte haargenau zu den Fakten, die Franz bisher bekannt waren. Auch sie dürfte von Frieder gesprochen haben.
Franz entsann sich des Gefühls in der Kneipe, als Ernst eröffnet hatte, Frieder Küfer sei der Patient, der zum Rezept gehöre. Seine Nonnentheorie war wie eine Seifenblase zerplatzt. Er stutzte und wendete die Wörter Patient und Nonne hin und her.
„Verdammt, was bist du doch begriffsstutzig“, schalt er sich. Er sprang auf und lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. „Es ist alles so einfach, ich habe es nur nicht gesehen.“
Gewiss verrichtete die Nonne Pflegedienste in einem Spital, in dem Frieder lag. Vielleicht hatte der junge Mann sie gebeten, Johann eine wichtige Nachricht zu überbringen.
Franz nahm sich vor, seinen neuen Freund nach Kranken- und Armenhäusern der Stadt zu fragen. Dann blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich beschlich ihn die Ahnung, es könnte zu spät sein, Frieder im Spital aufzusuchen. Was, wenn die Nonne eine Todesbotschaft hatte überbringen sollen, wenn sie getrieben worden war vom letzten Wunsch eines Sterbenden, den sie unmöglich hatte abschlagen können?
„Mein Gott, Johann, warum versteckst du dich so vor mir?“, presste Franz hervor. Er starrte auf seine geballten Fäuste. Als ihm bewusst wurde, tatsächlich auf den Bruder böse zu sein, ließ er die Arme sinken. Er zwang sich zur Ruhe. „Ich darf mich nicht verrückt machen lassen“, sagte er. Doch seine bisherigen Nachforschungen hatten noch keinen wertvollen Hinweis geliefert.
Franz ließ sich auf den Stuhl fallen. Sein Antrieb, nichtssagende Bestellungen, Rechnungen und Kaufbelege durchzuarbeiten, sank gegen Null. Er ließ den Kopf missmutig in seine aufgestützten Arme sinken.
Am Nachmittag hatte er keine weiteren Liebesbriefe gefunden. Der eine dürfte ein Zufallstreffer gewesen sein. Möglich, dass die Beziehung zu der Dame noch zu frisch war, oder die schmachtenden Botschaften auf der Post lagerten, ohne den Adressaten je erreicht zu haben. Franz hob den Kopf, notierte in seinen gedanklichen Terminkalender die Post als eine Station, die er am nächsten Tag aufzusuchen hatte.
Das flackernde Lampenlicht belebte einen Kupferstich, der Rostock von der Wasserseite her zeigte. Segelschiffe tanzten auf kleinen Schaumkämmen, dahinter drängten sich die zahlreichen Dächer der Stadt, die von vier Kirchtürmen überragt wurden. Vermutlich stammte die Szene aus dem Mittelalter, aber sie erinnerte Franz an das Getümmel, das er im Hafen erlebt hatte. Er glaubte sogar, den Wind zu spüren, der stadteinwärts geblasen, und die Segel der ein- und ausfahrenden Schiffe und Boote gebauscht hatte.
Für den kommenden Tag gehörte unbedingt der Besuch des Hafenkontors zu seinen Pflichten. Zwar hatte er noch nichts gefunden, was Johanns Einschiffung gerechtfertigt hätte, aber er wollte eine solche Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Bei einer Überprüfung von Passagierlisten der letzten zwei Monate ließe sich mit verhältnismäßig wenig Aufwand feststellen, ob sein Bruder von Rostock aus den Seeweg gewählt habe. Es war ihm bewusst, hier keinen Emigrantenhafen vorzufinden. Aber es war doch möglich, dass Johann von einem
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