Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
trockne mir die Füße ab, Kind. Du musst nach der Kleinen sehen, Lisa muss auch ins Bett.“
„Ja, Mama.“ Anne half ihrer Mutter in die Pantinen und zog sie vom Stuhl hoch. Frau Jessen griff sich in den Rücken und drückte den Bauch vor, so dass er Anne noch gewaltiger erschien.
Erschöpft, aber zufrieden, lag Anne neben ihren Schwestern im Bett. Lisa rieb sich die Augen, sie war offensichtlich müde, die kleine Helene, wieder munter von ihrem späten Abendbrot, hatte jedoch andere Pläne.
„Anne, bidde, bidde“, bettelte sie die große Schwester an, „vertell ’n Läuschen.“ Die beiden Kleinen liebten es, Anne Märchen erzählen zu hören. Sie besaß die besondere Gabe, sich Kleinigkeiten zu merken und Erzähltes damit auszuschmücken. Auch Lisa riss die Augen auf und stimmte in Helenes Bitten ein.
„Ja, vertell wat œwer Geister un Späukels.“
„Gaut, gaut“, beschwichtigte Anne die Mädchen. Sie war in einer Stimmung, die sie sich selbst nicht erklären konnte, und glaubte, die ganze Welt umarmen zu können. Anne drehte sich den Geschwistern zu, stützte den Oberkörper auf den linken Unterarm und begann mit leiser Stimme zu erzählen: „Ich will euch die Geschichte vom Silberglöckchen erzählen, die mir unsere Großmutter, Gott hab sie selig, oft erzählt hat, als ich noch klein war.“ Sie schloss einen Moment die Augen und begann:
„Es war einmal ein Schäferjunge, der lebte auf einer großen Insel im Meer, wo es in den Hügeln auch viele Unterirdische gab.“
„Wat sünd Unterirdische“, wollte Helene wissen, aber Lisa boxte die Kleine so derb in die Rippen, dass sie sofort das Gesichtchen zum Weinen verzog. Als sie Lisas drohenden Gesichtsausdruck sah, überlegte sie es sich anders, und hörte nun still der Geschichte zu.
„Der fand eines Morgens ein silbernes Glöckchen auf der grünen Heide zwischen den Hünengräbern und steckte es zu sich. Es war aber das Glöckchen von einer Mütze eines kleinen Braunen, der es da im Tanze verloren und nicht sogleich bemerkt hatte, dass es an dem Mützchen nicht mehr klingelte. Er war nun ohne das Glöckchen heruntergekommen und war sehr traurig über diesen Verlust. Denn das Schlimmste, was den Unterirdischen passieren kann, ist, wenn sie die Mütze verlieren oder die Schuhe. Aber auch das Glöckchen an der Mütze und das Spänglein am Gürtel ist nichts Geringes. Wer das Glöckchen verloren hat, der kann nicht schlafen, bis er es wiedergewinnt, und das war doch etwas ganz Schlimmes. Der kleine Unterirdische spähte und spürte in seiner Not umher; aber wie sollte er erfahren, wer das Glöcklein hatte? Denn nur wenige Tage im Jahr dürfen sie an das Tageslicht hinaus, und dann konnten sie auch nicht in ihrer wahren Gestalt erscheinen. Er hatte sich schon oft verwandelt in allerlei Gestalten, wie Vögel und Tiere, aber auch in Menschen und hatte von seinem Glöckchen gesungen, geklungen, gestöhnt, gebrüllt, geklagt und gesprochen. Aber keine kleinste Kunde oder nur die Spur von einer Kunde war ihm bis jetzt zugekommen. Das Schlimmste war, dass der Schäferjunge gerade nach dem Tag, als er das Glöckchen gefunden, von dem Dorfe weggezogen war und jetzt an anderer Stelle die Schafe hütete. Da begab es sich erst nach manchem Tag durch einen Zufall, dass der arme kleine Unterirdische wieder zu seinem Glöckchen und zu seiner Ruhe kommen sollte.“
Anne streichelte Helene über die Wange.
„Wie hett hei sin Glöckchen krägen?“, drängelte die Kleine. Anne schmunzelte über ihre kindliche Ungeduld.
„Der Unterirdische war nämlich auf den Einfall gekommen, dass eine Dohle, eine Krähe oder eine Elster das Glöckchen gefunden haben könnte und bei ihrer diebischen Natur und der Vorliebe für alles Blanke in ihr Nest getragen habe. Und so verwandelte er sich in einen angenehmen, kleinen bunten Vogel und flog alle Nester auf der ganzen Insel ab. Und er sang den Vögeln allerlei vor, ob sie ihm verraten möchten oder einen Fund gemacht hätten, dass er wieder zu seinem Schlaf käme. Aber die Vögel konnten ihm nicht helfen. Als er nun des Abends über das Wasser flog, weidete ein Schäferjunge dort eben an der Küste seine Schafe. Mehrere der Schafe trugen Glocken um den Hals und klingelten, wenn der Junge seinen Hund losschickte und die Tiere in Trab brachte. Das Vögelein, das über sie hinflog, dachte an sein Glöcklein und sang mit traurigem Gemüt ...“
Anne stimmte mit ihrer silberhellen Stimme ein Liedchen an:
„Glöcklein,
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