Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Glöcklein.
Böcklein, Böcklein,
Schäflein auch du,
Trägst du mein Klingeli,
Bist du das reichste Vieh,
Trägst meine Ruh.“
Begeistert klatschten Lisa und Helene in die Hände, lauschten dann andächtig, was Anne noch zu erzählen habe.
„Der Junge horchte auf diesen seltsamen Gesang, der von oben aus den Lüften klang und sah auch den bunten Vogel, der ihm noch viel seltsamer erschien. Er sprach bei sich: ‚Potztausend, wer diesen Vogel hätte! Der singt ja, wie unsereiner kaum sprechen kann. Was mag er mit dem wunderlichen Gesange meinen? Am Ende ist es ein bunter Hexenmeister. Meine Böcke haben nur tönerne Glocken und er nennt sie reiches Vieh, aber ich habe ein silbernes Glöckchen und von mir singt er nichts!‘ Und mit den Worten fing er an, in der Tasche zu fummeln, holte sein Glöckchen heraus und ließ es klingen. Der Vogel in der Luft sah sogleich, was es war und freute sich über die Maßen. Er verschwand sofort, flog hinter den nächsten Busch, setze sich, zog sein buntes Federkleid aus und verwandelte sich in ein altes Weib, das mit ärmlichen Kleidern angetan war. Die alte Frau, mit einem ganzen Sack voll Seufzer und Ächzer auf dem Rücken, stümperte sich quer über das Feld zu dem Schäferjungen hin. Der klingelte noch immer mit seinem Glöcklein und wunderte sich, wo der schöne Vogel geblieben war. Da räusperte sich die Alte und tat einige Huster aus hohler Brust, bot ihm dann einen freundlichen guten Abend an und fragte nach der Straße zu der Stadt. Dann tat sie, als ob sie das Glöcklein erst jetzt erblickte und rief ...“
Anne verstellte ihre Stimme und tat zur Freude der Kleinkinder so, als ob das Alter ihre Stimmbänder aufgeraut habe.
„,Herrje, welch ein niedliches, kleines Glöckchen! Hab ich doch in meinem Leben nichts Feineres gesehen! Höre, mein Söhnchen, willst du die Glocke verkaufen? Und was soll sie kosten? Ich habe ein kleines Enkelchen, für den wäre sie mir ein geeignetes Spielzeug.‘ “ Wiederum veränderte Anne ihren Tonfall und versuchte den Klang der Stimme eines halbwüchsigen Burschen zu treffen.
„,Nein, die Glocke wird nicht verkauft!‘, antwortete der Schäferknabe kurz angebunden, ,das ist eine Glocke, so eine Glocke gibt’s in der Welt nicht noch einmal, wenn ich nur damit klingele, so laufen meine Schafe von selbst dahin, wohin ich sie haben will und welchen lieblichen Ton sie hat! Hört mal, Mutter‘, und er klingelte, ,gibt es eine Langeweile in der Welt, die es vor dieser Glocke aushalten kann? Damit kann ich mir die längste Zeit wegklingeln, dass sie in einem Hui fort ist.‘ Das alte Weib dachte: Wollen sehen, ob er Blankes aushalten kann? und hielt ihm Silber hin, wohl drei Taler. Aber er sprach: ,Ich verkaufe die Glocke nicht.‘
Sie hielt ihm fünf Dukaten hin.
Er sprach: ,Das Glöckchen bleibt mein.‘
Sie hielt ihm die Hand voll Dukaten hin. Er sprach zum dritten Mal: ,Gold ist Quark und gibt keinen Klang.‘“
Lisa und Helene kicherten. Der ständige Wechsel von Annes Stimmlage und die Geschichte selbst verfehlten ihre Wirkung bei den kleinen Mädchen nicht. Sie hingen an Annes Mund und freuten sich, als es weiterging.
„Da wandte die Alte das Gespräch in eine andere Richtung und lockte den Schäferjungen mit geheimen Künsten und Segenssprechungen, wodurch sein Vieh gedeihen würde und sie erzählte ihm allerlei Wunder. Da wurde er lüstern und horchte auf. Das Ende vom Liede war, dass sie ihm sagte: ,Höre, mein Sohn, gib mir die Glocke, siehe, hier ist ein weißer Stock‘, und sie holte ein weißes Stäbchen hervor, worauf Adam und Eva sehr kunstvoll geschnitzt waren, wie sie die paradiesischen Herden hüteten und die fettesten Böcke und Lämmer vor ihnen hintanzten. Auch der Schäferknabe David, wie er ausholte mit der Schleuder gegen den Riesen Goliath antrat, ,diesen Stock will ich dir geben für das Glöckchen und solange du das Vieh mit diesem Stäbchen treibst, wird es gedeihen und du wirst ein reicher Schäfer werden. Deine Hammel werden immer vier Wochen früher fett werden als die Hammel aller andern Schäfer und jedes deiner Schafe wird zwei Pfund Wolle mehr tragen, ohne dass man ihnen diesen Segen ansehen kann.‘
Die alte Frau reichte ihm den Stock mit einer so geheimnisvollen Gebärde, lächelte so liebenswürdig und zauberisch dazu, dass der Junge gleich in ihrer Gewalt war. Er griff gierig nach dem Stock, gab ihr die Hand und sagte dazu: ,Topp, schlag ein! Die Glocke ist dein gegen den Stock.‘
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