Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
wieder hinauf. Als er das Zimmer betrat, standen die Mädchen immer noch schüchtern beieinander. Sie hatten nicht gewagt, die Papiere zur Seite zu schieben. Franz räumte eilig drei Sitzgelegenheiten leer und kramte die Tüte mit Keksen hervor, die er erst heute erstanden hatte. Das Gebäck hatte er für lange, eintönige Abende gedacht, die mit Tee und Knabberzeug etwas erträglicher gewesen wären. Nun würde es ihm in ganz anderer Weise helfen. Er war sich sicher, die Einkehr beider Kinder in seine Räuberhöhle den Keksen zu verdanken. Während seine Gäste unentwegt in die Tüte griffen, hatte er Muße, die beiden näher in Augenschein zu nehmen. Er schätzte das ältere Mädchen auf höchstens zwölf, eher elf Jahre, das jüngere auf acht Jahre. Ihre Kleidung war sauber und ordentlich, jedoch verblichen und die besonders beanspruchten Stellen waren geflickt. Offenbar waren den Kleidern bereits mehrere Mädchengenerationen entwachsen.
„Wie heißt ihr denn?“, begann Franz ungezwungen. Die Mädchen schauten sich mit vollen Mündern an. Das Ältere kaute schnell auf und wischte sich mit dem Ärmel die Krümel in den Mund.
„Ich bin Henriette und dort drüben sitzt meine Schwester Johanna.“ Damit war die Frage zweifellos beantwortet und Henriette langte nach dem nächsten Plätzchen.
„Meine Schwester heißt auch Johanna“, wusste Franz zur Unterhaltung beizutragen. Er angelte ebenfalls nach einem Keks und knabberte daran.
Damit schien der Bann gebrochen. Die Mädchen kicherten. „Ja, das wissen wir schon. Unser Bruder hat es uns nämlich verraten und wir wissen auch, dass du der Johann bist“, bemerkte die kleine Johanna vorwitzig. Allerdings handelte sie sich mit ihrem Vorstoß einen verwarnenden Blick ihrer großen Schwester ein.
Franz wollte schon widersprechen, den Irrtum der Geschwister aufklären, doch etwas hielt ihn zurück. Durfte er das Vertrauen der Kinder mit umständlichen Erklärungen aufs Spiel setzen?
Aus Henriettes Gesicht war die Heiterkeit verschwunden. Sie ließ den Keks aus ihrer Faust in der Tasche ihrer Schürze verschwinden.
„Ja, mein Herr“, begann sie nun förmlich. „Wir sind hier, weil uns unser Vater geschickt hat.“
Franz zog die Brauen zusammen.
„Wegen des Geldes für die Leichengesellschaft“, ergänzte sie mit großem Ernst und einer Feierlichkeit in der Stimme, die nicht zu dem Kinde passen wollten.
Die steile Falte grub sich einmal mehr in seine Stirn. Er hoffte, Henriette signalisieren zu können, nicht verstanden zu haben. Denn an dieser Stelle des Gesprächs verbot es sich erst recht, damit herauszurücken, Johanns Bruder zu sein.
Es klappte! Henriette bemerkte seine Ratlosigkeit und erklärte: „Frieder wird am Montag beerdigt und Mutter wollte Ihnen Bescheid geben wegen der Leichenfeier und so.“ Hier kam sie ins Stocken und schluckte schwer. „Wir freuen uns alle, dass Sie Frieder eine so schöne Beerdigung bezahlt haben. Unser Vater meint, Sie hätten die beste Leichengesellschaft ausgesucht. Für 60 Taler könnte unsereiner auch einen König unter die Erde bringen, so sagte er jedenfalls.“
Jetzt fiel bei Franz der Groschen.
Betroffen schaute er die Mädchen an, die mit traurigen Gesichtern am Tisch saßen. Inzwischen schien die Kekstüte vergessen.
„Es tut mir sehr leid um euren Bruder“, sagte er und zog unbewusst die Schultern hoch. „Trösten wir uns damit, dass er sich nun nicht mehr quälen muss und Ruhe und Frieden gefunden hat.“
Die Mädchen nickten mechanisch. Franz klangen die eigenen Worte wie ständig bemühte Phrasen in den Ohren. Er ließ den Kopf hängen und kam sich plötzlich furchtbar schäbig vor, die Kinder im Glauben gelassen zu haben, Johann zu sein.
Johann kannte Frieder, er stand in einer ganz anderen Beziehung zu ihm. Er wäre imstande gewesen, echte Trauer zu empfinden, vielleicht auch echten Trost zu spenden und nicht nur leere Worte daherzureden, dachte Franz. Der Moment schien wiederum denkbar ungeeignet, seine Verfehlung zu gestehen. Die Kinder würden nicht verstehen, was ihn bewogen hatte, seiner inneren Stimme zu folgen und einfach nach dem Strohhalm zu greifen, der ihm so plötzlich angeboten worden war.
„Am Montag zur zehnten Stunde auf dem Kirchhof von St. Nikolai wird die Leichenrede gehalten.“ Henriette schaute Franz mit einem fordernden Blick an.
Im Bewusstsein, nicht derjenige zu sein, für den Henriette ihn hielt, machte ihm der Blick doppelt schwer zu schaffen. Er senkte beschämt
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