Weiße Nebel der Begierde
war, den Stuhl unter den Tisch geschoben hatte und langsam zur Tür ging. Als sie dem seltsamen stillen Kind folgte, dachte Eleanor daran, dass sie vor der Ankunft auf der Insel geglaubt hatte, es gäbe keinen einsameren Menschen auf der Welt als sie.
Jetzt erkannte sie ihren Irrtum ...
... ihren zweifachen Irrtum.
Kapitel drei
»Gute Nacht, Juliana.«
Die kleine Bronzeuhr, die auf dem Tisch im Flur stand, gab neun glockenhelle Töne von sich, als Eleanor leise die Tür zu Julianas Schlafzimmer schloss. Es war endlich da, das Ende eines ausgesprochen ungewissen Tages voller Angst, des Tages, mit dem sie ein neues Leben an einem fremden Ort begonnen hatte.
Eleanor ging den Flur entlang, hielt aber vor ihrem Zimmer inne. Wenn sie sich jetzt zurückzog, würde sie nur in der Dunkelheit wach liegen. Selbst jetzt noch schwirrten ihr tausend Gedanken und beunruhigende Fragen durch den Kopf, deshalb war es wohl besser, sich noch nicht ins Bett zu legen. Stattdessen wollte sie in die Küche hinuntergehen und sehen, ob sie sich einen Tee aufbrühen konnte.
Wie es schien, hatten sich alle anderen Bewohner des Schlosses bereits zur Ruhe begeben, denn die Korridore waren dunkel, leer und still - nicht einmal der Regen war zu hören. Eleanor nahm den Kerzenhalter mit, in dessen Licht sie Juliana eine Geschichte vorgelesen hatte, und nahm langsam den weiten Weg durch die Türme in die unteren Gefilde des Schlosses. Sie verlief sich nur ein einziges Mal, ging in der letzten Etage nach links statt nach rechts und stand plötzlich vor der geschlossenen Tür des Arbeitszimmers, in dem sie am Nachmittag voller Unsicherheit auf den Viscount gewartet hatte. Der flackernde Schein des Kaminfeuers war durch den Spalt am Boden zu sehen.
Dann schliefen also doch noch nicht alle.
Eleanor blieb einen Moment stehen und dachte an den mysteriösen Lord Dunevin. Sie erinnerte sich an die düsteren Warnungen, die man ihr auf dem Festland zugeflüstert hatte. Die Leute hatten ihn einen Dämon genannt und als grimmigen Schurken beschrieben, der unzählige Gräueltaten an allen möglichen hilflosen Opfern verübt hatte. Allerdings hatte Eleanor bisher noch nichts beobachtet, was diese unheilvollen Beschuldigungen untermauert hätte. Der Viscount hatte sie keineswegs erschreckt, sondern in seiner eigenartig widersprüchlichen Art eher neugierig gemacht. Er war sicherlich kräftig und imposant, was seine Statur betraf, aber er hatte eine tiefe, ruhige Stimme - es war die Stimme eines Mannes, der lieber im Hintergrund blieb, als sich den kritischen Blicken der Gesellschaft auszusetzen.
Schon in der kurzen Zeit, die sie in seiner Nähe verbracht hatte, war Eleanor klar geworden, dass er eine schrecklich schwere Bürde trug. Man sah es in seinen Augen, die so dunkel, unnahbar und überschattet waren. Eleanor fragte sich, wie lange er wohl schon Witwer war. War seine Frau bei Julianas Geburt gestorben? Das würde erklären, warum sich Lord Dunevin in Gegenwart seiner Tochter so unbehaglich fühlte und warum er nicht einmal mit ihr zusammen essen wollte.
Oder machte er vielleicht Juliana irgendwie für den Tod seiner Frau verantwortlich?
Nach Eleanors Erfahrung schlossen sich die Hinterbliebenen bei einem Todesfall eher enger zusammen. Am heutigen Abend hatte sich Dunevin bestimmt nicht in die Nähe seiner Tochter gewünscht, aber während des Gesprächs mit Eleanor am Nachmittag schien er sehr besorgt um die Ausbildung und Fürsorge gewesen zu sein, die Juliana bekommen sollte.
Eleanor wunderte sich, dass er Juliana nicht in eines der Mädchenpensionate für höhere Töchter schickte, die die feine Gesellschaft so sehr schätzte. Das wäre die einfachste Lösung, aber Eleanor ahnte, dass mehr hinter all dem steckte, dass es noch einen anderen Grund gab, der ihr zumindest in dieser besonderen Nacht verborgen bleiben würde. Sie ließ das Arbeitszimmer hinter sich und setzte ihren Weg zur Küche fort.
Die Küche war, wie Fergus ihr erklärt hatte, von der großen Halle aus über einen überdachten Säulengang und eine kleine Wendeltreppe im Eckturm zu erreichen. Eleanor erwartete, einen beengten, muffigen Raum voller Qualm vorzufinden, aber sie hatte sich geirrt. Die Küche war sehr groß und etliche Türen führten von hier aus zu den Speisekammern, zur Spülküche und zum Weinkeller.
Die Wärme, die die bogenförmig gemauerte Feuerstelle ausstrahlte, empfing Eleanor und zog sie geradezu in eine tröstliche Umarmung. Die Luft war schwer vom
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