Weiße Nebel der Begierde
woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Ich muss Sie gar nicht kennen, Kindchen. Vor drei Nächten hab ich zu St. Columba, dem Schutzpatron dieser Insel, gebetet, dass er dem kleinen Mädchen einen Engel schicken soll, damit er es rettet.« Sie lächelte hoffnungsvoll, »’s ist ein Anfang, dass Sie gekommen sind. Ja, ein neuer Anfang und eine neue Hoffnung für uns alle.«
Fast eine Stunde später verließ Eleanor die Behaglichkeit des Küchenfeuers, um den komplizierten Weg zurück in ihre Schlafkammer zu gehen.
Schon gleich nach diesem ersten KennenIernen war Eleanor überzeugt, dass Mairi eine warmherzige, kluge Frau war, und ihre zugängliche, großzügige Art hatte die bösen Vorahnungen, die Eleanor schon den ganzen Tag geplagt hatten, zum großen Teil vertrieben. Nach den ersten unschuldigen, aber dennoch neugierigen Fragen hatte sich Mairi mit Eleanors Zurückhaltung, über sich selbst zu sprechen, abgefunden und die Unterhaltung auf andere Themen gelenkt. Sie hatte Eleanor vom Leben in Dunevin, von der Abgeschiedenheit der Insel und, was am wichtigsten war, von dem Versteck der Keksdose erzählt, falls Eleanor einmal mitten in der Nacht »Lust auf Knabberei« hatte, wie sich Mairi ausdrückte.
Als Eleanor sich auf den Weg nach oben machte, war es beinahe Mitternacht. Der Feuerschein unter der Tür des Arbeitszimmers war sehr schwach geworden.
Eleanor ging auf ihr Zimmer zu, blieb jedoch auf dem Flur stehen und spähte zu Julianas Tür. Sie erinnerte sich, dass sie sich als kleines Mädchen immer sicher gefühlt hatte, wenn sie am Morgen beim Aufwachen das erste Tageslicht durch die offene Tür gesehen hatte. Manchmal hatte sie sich sogar vorgestellt, dass ihr eigener Schutzengel mit einer Laterne neben ihr wachte. Vielleicht würde Juliana auch so empfinden, wenn sie bei Licht erwachte. Mit diesem Gedanken ging Eleanor zu Julianas Tür.
Sie drehte den Knauf ganz vorsichtig, um das Kind nicht zu wecken. Es war stockdunkel in der Kammer, aber Eleanor hatte die brennende Kerze auf den Tisch im Flur gestellt, und es fiel ein wenig Licht auf Julianas Bett. Eleanor erstarrte.
Das Bett war leer.
Sie zog die Decke zurück. »Juliana?«
Keine Reaktion.
Eleanor lief auf den Flur, um die Kerze zu holen, und schaute sich um - sie spähte sogar in den Schrank, aber von Juliana war keine Spur zu sehen. Sie rief nach ihr und wurde sich erst im Nachhinein bewusst, wie unsinnig es war, von einem stummen Kind eine Antwort zu erwarten. Ihr Herz klopfte wild. Sie war erst seit ein paar
Stunden Gouvernante und schon war ihr Schützling verloren gegangen.
Eleanor folgte einer Eingebung und sah unter das Bett, aber auch dort war nichts. Sie rannte aus der Kammer, hielt aber inne, um ihre konfusen Gedanken zu ordnen.
Juliana ist nicht verschwunden, redete sie sich ein. Die Kleine war hier zu Hause und hier würde ihr kein Leid geschehen. Sie lebten nicht mehr in den finsteren Zeiten, in denen kriegerische Clansmänner mitten in der Nacht in fremde Schlösser einfielen, um zu plündern und zu stehlen. Dies war das neunzehnte Jahrhundert. Blutfehden und derlei Dinge gehörten der Vergangenheit an. Juliana war irgendwo hier in diesem Schloss. Eleanor musste sie nur suchen.
Bevor sie die Treppe hinunterging, sah sie in ihrer eigenen Kammer und im Schulzimmer nach -vergeblich.
Eleanor ging ein Stockwerk hinunter in den Flügel, in dem sich offensichtlich die anderen Schlafzimmer befanden. Sie hatte keine Ahnung, welches der Viscount bewohnte, und die Aussicht, ihn zu wecken, um ihm zu sagen, dass seine Tochter weg war, gefiel ihr keineswegs, aber sie kannte sich in diesem Schloss nicht aus, und deshalb blieb ihr vermutlich gar nichts anderes übrig, als ihn zu alarmieren.
Die ersten beiden Türen auf diesem Korridor waren abgeschlossen und Eleanor bekam keine Antwort auf ihr leises Klopfen. Doch da waren noch zwei weitere Türen. Eleanor ging auf die zur Linken zu und hob die Hand, aber dann merkte sie, dass sie einen Spalt offen stand. Ohne anzuklopfen stieß sie sie ein Stück weiter auf.
Dies war eindeutig das Schlafgemach einer Frau, in dem es angenehm nach Lavendel roch. Die meisten Möbel waren mit Leintüchern zugedeckt, und ein rascher Blick auf den Kamin verriet, dass hier in der letzten Zeit kein Feuer gebrannt hatte.
Die leichten Bettvorhänge, das zierliche Bett, der schwache Duft - Eleanor brauchte sich nicht weiter umzusehen, um zu wissen, dass dies das Gemach der Viscountess
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