Weiße Nebel der Begierde
- wenn dir zum Beispiel kalt ist und du einen Schal haben möchtest oder wenn du Hunger hast -, dann gibt es Möglichkeiten, das auch ohne Worte zu sagen.«
Juliana ließ sie nicht aus den Augen und hörte zu - oh, dem Himmel sei Dank, sie hörte wirklich zu! Eleanor atmete erleichtert auf.
»Ich dachte, wir könnten es zuerst mal mit diesen Kacheln versuchen.«
Eleanor nahm das Buch mit den Geschichten zur Hand und legte es neben sich, dann suchte sie die richtigen Buchstaben und schrieb B-U-C-H. Dann sah sie Juliana an, die das Wort las, ehe sie wieder aufschaute.
Eleanor hätte schwören können, dass sie ein Flackern in den Augen wahrgenommen hatte -ein winziges Zeichen, dass sie sich nicht vor Eleanor verschließen wollte. Alles war besser als dieses unheimliche Schweigen und die Erstarrung.
»Jetzt bist du dran«, sagte Eleanor mit einem aufmunternden Nicken. »Such dir was aus.«
Juliana überlegte eine Weile, dann sah sie sich im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf das kleine rot bemalte Holzpferd mit abgenutzten Rädern und einer ausgefransten Schnur, an der man es ziehen konnte. Sie stand auf, um es zu holen, und stellte es auf den Tisch. Dann suchte sie einen Buchstaben nach dem anderen und schrieb ein Wort mit ihnen.
P-F-E-R-D.
Eleanor lächelte. Wärme durchströmte sie, als hätte die Sonne plötzlich alle Wolken vertrieben.
Sie konnten sich verständigen.
Sie zügelte ihre Aufregung und sagte: »Sehr gut.« Dann suchte sie nach einem anderen Gegenstand. »Gut, jetzt bin ich wieder dran.«
Und sie schrieben etliche Worte -
B-A-L-L
K-A-R-T-E
S-O-L-D-A-T
K-E-R-Z-E
Dann war Eleanor wieder an der Reihe, aber diesmal suchte sie nicht nach einem Gegenstand, den sie auf den Tisch legte.
Stattdessen schob sie einige der kleinen Kacheln beiseite und ließ sich lange Zeit, um die nächsten Buchstaben ordentlich vor Julianas Platz zu legen.
F-R-E-U-N-D-I-N.
Eleanor hielt die Luft an, als Juliana den Kopf senkte, um das Wort zu lesen. Sie beobachtete, wie Juliana auf ihrer Unterlippe kaute, bevor sie bedächtig den Blick zu ihrem hob. Einen Moment später wieder war ihr Blick verschlossen.
Eleanor holte tief Atem. Sie hatte das Gefühl, wieder vor einer verschlossenen Tür zu stehen, und wartete darauf, eingelassen zu werden. Sie beobachtete, dass sich Unsicherheit auf Julianas Gesicht spiegelte. Dieses Kind hatte sich zu lange vor der Welt versteckt. Eleanor schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Juliana ihr diese kleine Chance geben möge.
»Ich wäre so gern deine Freundin, Juliana«, flüsterte sie.
Eleanor drängte nicht auf eine Antwort, sondern wartete geduldig. Sie saßen beide ganz still da und hörten am Ticken der Uhr, wie die Minuten verstrichen. Im Hof bellte ein Hund. Mit einem Mal streckte Juliana eine Hand aus und tastete scheu die Buchstaben auf der Suche nach den richtigen ab.
J-A.
Das Kind sah auf. Ihre Blicke trafen sich wieder und Eleanor lächelte. Ihr wurde die Kehle eng, als sie blinzelte, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
»Juliana, ich ...«
Plötzlich flog die Tür auf. Der Zauber dieses ganz besonderen Augenblicks war zerstört.
»Seine Lairdschaft erwartet Sie jetzt in seinem Arbeitszimmer.« Fergus stand in der Tür.
Der Mann hat offenbar den Hang, immer zum falschen Zeitpunkt zu erscheinen, dachte Eleanor. Am Abend zuvor war er auch aufgetaucht, als sie das Gefühl hatte, Fortschritte mit Juliana zu machen.
Juliana wandte sich so schnell von dem Tisch ab, dass sie ein paar der Kacheln auf den Boden fegte. Wie ein Blitz raste sie zu ihrer Fensterbank, drehte dem Zimmer den Rücken zu und starrte auf den dunstigen Himmel und das aufgewühlte Meer.
Eleanor runzelte die Stirn, als sie sich bückte, um die Kacheln aufzuheben. »Würden Sie seiner Lairdschaft bitte ausrichten, dass ich gleich hinunterkomme?«
Fergus erwiderte nichts, blieb, wo er war, und schaute zu, wie sie die Buchstabenkacheln in die Kiste räumte.
Sein überraschendes Erscheinen hatte bemerkenswerte Kälte in den Raum gebracht. Er wirkte beinahe ärgerlich, als wäre er der Ansicht, dass Juliana die Kacheln mit Absicht vom Tisch gewischt hätte.
»Danke, Fergus«, sagte Eleanor in einem Ton, der deutlich machte, dass er gehen konnte. In dem hilflosen Bemühen, die Wärme zurückzuholen, die sie und ihren Schützling noch vor wenigen Augenblicken eingehüllt hatte, nahm sie die Kaminzange in die Hand, legte ein frisches Torfbrikett aufs Feuer und stocherte in den Flammen. Als
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