Weiße Nebel der Begierde
Fergus noch immer keine Anstalten machte, sie allein zu lassen, fragte sie: »Ist sonst noch was?«
Der alte Mann starrte sie an, fast als wollte er sie einschüchtern. »Nein, Miss.«
Erst jetzt drehte er sich um und verschwand. Eleanor strich mit den Händen ihre Röcke glatt und wünschte, sie könnte auch die Kälte wegwischen. Wie es schien, waren nicht alle in diesem Schloss so herzlich und freundlich wie Mairi.
»Ich sollte deinen Vater nicht warten lassen«, sagte Eleanor. »Wirst du dich hier allein zurechtfinden, oder soll ich Mairi bitten, dir Gesellschaft zu leisten, bis ich zurückkomme?«
Eleanor sank der Mut, als Juliana nicht reagierte. In der Hoffnung, dass nicht alles, was sie am heutigen Tag gewonnen hatte, zunichte war, legte sie vorsichtig eine Hand auf die Schulter des Kindes. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Juliana bewegte keinen Muskel.
Entmutigt verließ Eleanor den Raum. Aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Einmal war sie bis zu Juliana durchgedrungen und hatte die Mauer des Schweigens durchbrochen und das würde ihr auch ein zweites Mal gelingen.
Minuten später stand sie in der Tür zum Arbeitszimmer des Viscounts. Er saß hinter seinem großen Schreibtisch, und ein großer Jagdhund -vielleicht der, der vorhin im Hof gekläfft hatte -lag wie ein Fellteppich ausgestreckt vor dem Kamin. Der Hund hob wachsam den Kopf, als Eleanor leise an den Türrahmen klopfte.
»Mylord?«
Der Viscount sah von den Papieren auf. Er trug eine Brille, die seinen intensiven Blick abmilderte und ihm eher das Aussehen eines Gelehrten verlieh als das eines grimmigen Highland-Clanführers. »Miss Harte«, sagte er und winkte sie heran. »Guten Tag, bitte kommen Sie herein.«
Eleanor ging auf ihn zu und setzte sich auf einen der beiden mit kariertem Stoff bezogenen Stühle, die vor dem Schreibtisch standen. Der Hund war neugierig geworden, erhob sich und kam zu ihr, um an ihr zu schnüffeln. Wenn sie saß, war sein Kopf fast auf gleicher Höhe mit ihrem.
Der Viscount funkelte den Hund an und sagte auf Gälisch: »Cudu, a-sios. Sitz!«
»O nein, es ist schon gut.«
Eleanor hielt dem stattlichen Tier die Hand hin. Er warf einen Blick auf seinen Herrn, bevor er mit seiner feuchten Nase daran schnupperte. Nach einem kurzen Moment senkte er den Kopf, in der Erwartung, hinter dem grauen Ohr gekrault zu werden. Eleanor tat ihm den Gefallen und von diesem Augenblick an spürte sie sein wärmendes Fell an ihren Füßen.
Lord Dunevin faltete die Hände auf der Tischplatte und sah Eleanor an. »Fergus hat mir ausgerichtet, dass sie mich wegen Julianas Lehrplan zu sprechen wünschen.«
Eleanor räusperte sich und nickte. »Ja, Mylord, obwohl ich eigentlich gehofft hatte, Sie im Schulzimmer sprechen zu können.«
Der Viscount musterte sie ungläubig, und Eleanor rief sich ins Gedächtnis, dass sie hier nicht auf einer gesellschaftlichen Stufe mit ihm stand wie es Lady Eleanor Wycliffe, die Erbin des Westover-Vermögens, getan hätte, sondern seine Angestellte Miss Nell Harte war.
Sie milderte ihren Ton. »Ich bitte um Vergebung, Mylord. Ich wollte nicht respektlos sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Ursache. Ich war heute Morgen ziemlich beschäftigt«, erklärte er.
Eleanor ertappte sich dabei, wie sie sein stoppeliges Kinn und die wenigen Haarsträhnen betrachtete, die ihm in die Stirn fielen, und überlegte, ob sich die Furche zwischen seinen Augen jemals glättete. Sie fragte sich, ob er auch einmal lächeln konnte. Als sie merkte, dass er sie ansah, verdrängte sie diese Gedanken und widmete den Notizen, die sie im Schulzimmer gemacht hatte, ihre Aufmerksamkeit.
»Ja, das Lehrmaterial, das ich vorgefunden habe, ist im Großen und Ganzen angemessen, aber ich habe festgestellt, dass etliche Fachbereiche, die ich für Julianas Ausbildung empfehlen würde, gar nicht abgedeckt sind.«
»Tatsächlich?«
»Ja.« Sie händigte ihm ihre Notizen aus. »Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, einige der Fachbereiche aufzulisten, die sich meiner Meinung nach als förderlich erweisen würden.«
Der Viscount nahm das Pergament in die Hand.
Zunächst sah es so aus, als würde er die Liste nur überfliegen, aber etwas machte ihn offensichtlich stutzig, und er studierte sie genauer.
Dann schaute er zu Eleanor auf. »Astronomie? Botanik? Und das Letzte - lese ich das richtig? Anatomie?«
Eleanor nickte.
»Miss Harte, ich habe nicht vor, meine Tochter zu einem neun Jahre alten Blaustrumpf zu
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