Weiße Nebel der Begierde
küsste, egal, wer neben ihnen stand, und dass er nie mehr aufhörte, nicht einmal, wenn der Mond hoch am Himmel stand und die Magie der Nacht sie einhüllte. Sie wollte seine Hände auf ihrer Haut und die Berührung seiner Hitze an Stellen spüren, die noch nie jemand erkundet hatte. Sie wollte sich jeden Tag für den Rest ihres Lebens in den endlosen Tiefen seiner dunklen Augen verlieren.
Die plötzliche Erkenntnis war atemberaubend und erfüllend. Sie wollte diesen Mann lieben, den die Welt verstoßen hatte, und sein verwundetes Herz heilen, auf dieser Insel leben, zusehen, wie Juliana heranwuchs und ihr helfen, ihren Weg ins Leben der Erwachsenen zu finden. Sie wollte den Abgrund zwischen Vater und Tochter überbrücken und sie wieder zueinander führen.
Das alles wünschte sie sich und noch viel mehr, aber zuerst musste Gabriel die Wahrheit über sie erfahren, über ihre Herkunft und den Grund, warum sie von ihrem bisherigen Zuhause fortge-laufen war. Sie würde ihm beichten müssen, dass sie nicht Miss Nell Harte war, sondern Lady Eleanor Wycliffe, die illegitime Westover-Erbin - auch wenn diese Enthüllung die gemeinsame Zukunft zerstören mochte.
Offenbar sah man ihr an, dass sie sich mit quälenden Gedanken herumschlug, denn Gabriel sah ihr besorgt in die Augen.
»Stimmt etwas nicht, Mädchen? Sie machen den Eindruck, als wären Sie nicht glücklich darüber, dass wir das Rennen gewonnen haben.«
Sie sah unsicher zu ihm auf. Sie fürchtete sich vor dem, was sie tun musste. Was würde er machen, wenn sie ihm jetzt und hier gestehen würde, dass sie ihn liebte? Würde er sie für verrückt halten? Für närrisch? Oder, noch schlimmer, würde er sich von ihr abwenden?
Ob er ärgerlich wurde, wenn er erfuhr, dass sie ihn belogen und sich für jemand, der sie nicht war, ausgegeben hatte?
Dieses Risiko musste sie eingehen. Ihre Empfindungen für Gabriel waren so real, so außergewöhnlich, dass sie nicht durch eine Lüge getrübt werden durften. Sie würde ihm ihr Herz, ihr Leben, ihre Zukunft zu Füßen legen, aber nicht sofort und nicht hier.
Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der passende Ort, ihm eine Beichte abzulegen, an diesem Tag gab es so viel zu feiern - nicht zuletzt die Tatsache, dass Gabriel aus seinem Versteck gekommen war und den ihm zustehenden Platz eingenommen hatte. Das zu verderben käme einer Katastrophe gleich.
Deshalb erwiderte Eleanor lächelnd den Blick des Mannes, den sie liebte, und schüttelte den Kopf. »Ich wusste von vornherein, dass Sie gewinnen.«
An diesem Tag hatte er mehr als nur ein Pferderennen gewonnen.
Er hatte auch ihr Herz erobert.
Kapitel dreizehn
Das schöne Wetter hielt den ganzen Tag an, und immer wieder küssten die Sonnenstrahlen die grüne Insel, wenn die Wolken weiterzogen.
Viele behaupteten, es hätte seit Menschengedenken keinen so wunderbaren Michaelistag gegeben. Andere schrieben das ungewöhnlich milde Wetter dem unerwarteten, aber durch und durch willkommenen Erscheinen des zurückgezogen lebenden Lairds der Insel zu.
Nach dem aufregenden Pferderennen am Vormittag zogen die Inselbewohner zu der grünen Weide unterhalb des Schlosses, wo Männer und Jungen in Mannschaften für das traditionelle shinty-Spiel eingeteilt wurden. Die Männer wurden dafür mit dünnen, geschwungenen caman-Stöcken ausgestattet und mit einem kleinen Holzball in der Größe eines Apfels. Sie spielten das Spiel hart und entschlossen, während jede Mannschaft versuchte, den Ball in das Tor des Gegners zu schlagen, das durch zwei Steinhaufen markiert war.
Es gab aufgeschürfte Knie, Kopfbeulen und sogar einen ausgeschlagenen Zahn. Die Regeln waren zwar nicht schriftlich fixiert, aber das Spiel war von alters her bekannt. Die Temperamente flammten auf, und ständig kam es zu Auseinandersetzungen, manchmal auch zu Handgreiflichkeiten, aber immer wurde im Spiel entschieden, wer der Sieger war.
Als sich die Sonne dem Horizont entgegenneigte und es zu dunkel wurde für weitere Spiele, begaben sich alle ins Dunevin Castle zum Festmahl, das Michaelis-Lamm und den struan-Kuchen, die die Frauen am Abend zuvor gebacken hatten.
Jede Familie brachte ihr eigenes Essen von den Pachtfarmen mit und die Tische bogen sich unter den verschiedenen Käsesorten und partan- Pasteten, Kuchen und Brötchen, Puddings und Plätzchen. Heide-Ale und Beerenwein flossen in Strömen, lösten die Zungen und sorgten für fröhliche Stimmung. Alle waren heiter und vergnügt, und als die Nacht
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