Weiße Nebel der Begierde
die Tür zu, die ins Schloss führte. Gabriel wartete, bis der nächste Tanz endete, und da sie immer noch nicht zurück war, beschloss er, sie zu suchen.
Er entschuldigte sich bei Mairi und Seona und machte sich auf den Weg.
Mairi warf Seona einen Seitenblick zu und grinste verstohlen. »Lenk den Kammerdiener ein Weilchen ab, machst du das, Seona? Sein Herr wird’s ihm nicht danken, wenn er ihm heute Abend überallhin nachläuft wie ein Hündchen.«
Seona nickte wissend und ging auf den Tisch zu, an dem Fergus saß und bei Ale mit anderen Inselbewohnern plauderte. Seona war immer schon erfindungsreich gewesen, und jetzt verwickelte sie Fergus in eine Unterhaltung, aus der er sich nicht so schnell herauswinden konnte.
Nachdem dieses Hindernis aus dem Weg geräumt war, sah Mairi zum Turmfenster auf und flüsterte: »Heiliger Michael, wenn du mich hören kannst, dann mach bitte, dass dein Zauber diesmal wirkt.«
Eleanor nahm die Flöte auseinander und legte die Teile behutsam in das mit Samt ausgeschlagene Kästchen. Sie strich noch einmal mit der Hand zart über das polierte Rosenholz und die silbernen Tonklappen, die glänzten, als wären sie neu, bevor sie das Kästchen in der Kommodenschublade in ihrer kleinen Kammer verstaute. Trotz ihres anfänglichen Widerstandes hatte es sich gut angefühlt, die Flöte zu spielen, in der Musik zu versinken und etwas zur Feier dieses besonderen Tages beizutragen.
Sie lächelte, als sie an das muntere Treiben draußen dachte - für alle war das die letzte Möglichkeit in diesem Jahr zusammenzukommen und sie hofften auf einen neuen Anfang.
Sie drehte sich um und wollte schon gehen, aber dann blieb sie doch im Flur vor der geöffneten Tür des Schulzimmers stehen. Durch das Fenster schimmerte das Licht der Fackeln im Hof und sie hörte das Lachen, die Stimmen und die Fiedeln.
Sie ging zu der Fensterbank, die Juliana so sehr liebte und sah hinunter in den Hof. Sie entdeckte Juliana, die zusammen mit Brighde bei Mairi saß, und lächelte unwillkürlich. Von all den wundervollen Dingen an diesem Tag waren die beiden Mädchen das schönste. Durch die Gnade Gottes oder des heiligen Michaels oder aller Engel im Himmel hatte Juliana eine Freundin gefunden.
Es war unerklärlich. Den ganzen Tag waren die Kinder so großartig miteinander zurechtgekommen, als ob sie sich bestens unterhalten könnten, doch Juliana hatte nie ein Wort von sich gegeben oder etwas mit Gesten erklärt. Brighde, ein ganz reizendes Kind, wie Eleanor fand, redete mit Juliana, antwortete ihr, stellte Fragen, und irgendwie wusste sie genau, was Juliana gesagt hätte. Es war, als hätte Juliana all die Jahre des Schweigens und der Einsamkeit nur auf dieses eine Mädchen gewartet, und von dem Moment an, in dem sie sich gesehen hatten, waren sie aufeinander zugegangen und hatten die ganze Zeit gespielt und getanzt.
Es war nur eines der Wunder auf dieser Insel, für die es keine logische Erklärung gab. Das kleine Volk, Feen, Elfen, sogar Geister wanderten nachts ziellos durch den Nebel - diese Insel schien etwas Übernatürliches zu beherbergen, einen uralten Geist, einen Zauber, der offenbar das Unmögliche möglich machte und Menschen an etwas glauben ließ, an das sie nie zuvor geglaubt hatten.
Derselbe gälische Zauber hatte Eleanors Herz an Gabriel übergeben.
Während des ganzen Tages waren ihre Gedanken nur bei ihm gewesen, und sie hatte sich gefragt, was er tun oder sagen würde, wenn er wüsste, was sie für ihn empfand. Sie wünschte, sie könnte, wie eine dieser Wahrsagerinnen auf den Jahrmärkten, in eine Wasserschale oder eine Teetasse schauen und sehen, was die Zukunft für sie -und für ihn - bereithielt.
Während sie dasaß und in den Schlosshof hinunterblickte, erinnerte sie sich an etwas, was ihr Mairi erzählt hatte: Wenn ein Mädchen den Namen des Mannes, den sie liebte, dem Michaelis-Mond zuflüsterte, würde er sie in ihren Träumen heimsuchen.
Eleanor stand reglos vor dem Fenster, sah auf zum Mond, zu den Sternen und zu dem endlosen Himmel, der das rastlose Meer überspannte, und hauchte ganz, ganz leise: »Gabriel.«
Fast im selben Moment hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie wirbelte herum. Ihr stockte der Atem, als sie Gabriel auf der Schwelle stehen sah.
Der Traum war wahr geworden.
Sie sagte nichts. Er auch nicht. Sie sahen sich in der Dunkelheit nur schweigend an.
Er war in Schatten und silbernes Licht gehüllt. War er eine flüchtige Erscheinung oder real? In diesem
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