Weiße Stille
Shannon war schon ein halbes Dutzend Mal zum Entzug.«
»Und ihr Vater ist Arzt«, murmelte Ren. »Das muss sehr schmerzlich für ihn sein.«
»Und er ist der Sohn eines sehr erfolgreichen Mannes. Sein Vater war ein Kriegsheld, ein erfolgreicher Sportler und einer unserer Stadtväter. Charlie gehört nichts mehr von dem, was sein Vater aufgebaut hat – abgesehen von dem alten Haus.«
»Das früher das Cheapshot Inn war.«
»Genau. Aber der Laden lief nicht gut.«
»Nein.«
»Charlie hat mir erzählt, dass er den Betrieb der Brauerei wieder aufnehmen will«, sagte Mike. »Er hofft, auf diese Weise zu Geld zu kommen.«
»Aber das kostet erst einmal Geld«, erwiderte Ren. »Warum verkauft er das Land nicht einfach? Dann könnte er seine Schulden bezahlen. Ich weiß zwar nicht, wie tief er in der Kreide steht, aber es macht doch keinen Sinn, einen Kredit zum Aufbau einer Brauerei aufzunehmen, die womöglich wieder Pleite geht.«
»Charlie ist nicht dumm, Ren. Er ist ein sehr guter Arzt, Forscher und Biochemiker. Geschäfte sind einfach nicht sein Ding.«
»Dann sollte er die richtigen Leute einstellen, die sich um diese Dinge kümmern.«
»Das hat er versucht. Aber wenn die Katze nicht da ist, tanzen die Mäuse bekanntlich auf dem Tisch …«
»Wird er denn nicht aus Erfahrung klug? Erkennt er denn nicht …«
Mike unterbrach sie: »Charlie hat meinem Sohn das Leben gerettet, Ren.«
»Oh, das wusste ich nicht.«
»Wie auch. Ich würde Charlie um jeden Preis verteidigen«, sagte Mike.
»Dann lassen wir es vorerst dabei bewenden«, erwiderte Ren. »Ist Ihr Sohn wieder ganz gesund?«
»Ja. Gott sei Dank.«
»Einerseits das Leben von Kindern retten und andererseits Leute besoffen machen«, sagte Ren. »Was soll man dazu sagen?«
Allerdings hätte sie gerne weiter über Charlie Barger gesprochen, denn irgendetwas stimmte nicht mit dem Mann.
Mike schaute sie an, als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte aber nichts.
Ren kehrte in den Gasthof zurück und setzte sich in ihrer Suite aufs Sofa. Sie studierte die Menükarte des Gourmet-Lieferservice. Von Pizza über Lachs und Burritos bis hin zu Sushi wurde alles Mögliche angeboten. Als sie ihre Bestellung aufgab, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung: »Zimmer Nummer neun, richtig?«
»Ja.«
Sie hatten alle ihre Daten. Grauenhaft. Ganz Breckenridge ging aus, und sie bestellte sich etwas beim Lieferservice.
Als das Essen eine Stunde später kam, ging sie hinunter, um es entgegenzunehmen. Die anderen Gäste tranken Wein, sahen fern oder lasen.
»Hallo«, sagte sie.
»Alles klar, Miss?«, sagte ein gut aussehender Snowboarder.
»Geht so«, erwiderte Ren. Sie überlegte kurz, ob sie bleibenund sich mit den Leuten unterhalten sollte, doch dann sagte sie nur: »Schönen Abend noch« und kehrte in ihre Suite zurück.
Als sie sein paar Stunden später durch das Fenster in die Dunkelheit starrte, kam ein Schneepflug wie ein Roboter auf sie zu. Er fuhr die Steigungen hinauf, folgte der gewundenen Straße und warf ein goldenes Licht in den Schnee. Ren konnte den Blick nicht abwenden, als der Schneepflug an der Kirche vorbeifuhr und dann wieder ihre Richtung einschlug. Sie saß mit einem Stapel Notizen und einer Flasche Wasser am Tisch. Zwei leere Tüten Fruchtgummi lagen auf dem Boden neben ihr. Auf der Fensterbank und neben ihrem Bett brannten Kerzen, deren Flammen von den Spiegeln und Fensterscheiben reflektiert wurden.
Ren konzentrierte sich wieder auf die Unterlagen. Jeans Telefonprotokolle und Kontoauszüge lagen vor ihr. Alles war mit Pfeilen, Fragezeichen und Post-it-Zetteln markiert. Colin Grabien hatte bereits alles überprüft; er hatte eine Antenne für solche Dinge und einen Blick fürs Detail.
Aber den hatte Ren auch.
Sie hatte ganze Stapel von Zeugenaussagen. Sie hatte Straßenkarten. Sie hatte Fotos. Sie hatte farbige Stifte. Sie hatte Skizzenblocks. Hätte sie nicht so viel Zeit damit verbracht, sich das alles zu besorgen, hätte sie das ganze Zeug auf den Boden geworfen. Stattdessen nahm sie die Kaffeetasse und schleuderte sie quer durchs Zimmer.
»Was von diesem ganzen Mist ist wirklich wichtig?«, rief sie wütend.
Die Tasse prallte von der Wand zurück, ohne zu zerbrechen.
Ren schüttelte den Kopf und musste wider Willen kichern. Du bist zu blöd, eine Tasse zu zerdeppern.
45.
Am nächsten Morgen parkte Ren vor Caroline Quaintances Haus und blickte auf das Foto von Billy Waites und in seine ausdrucksvollen, intelligenten
Weitere Kostenlose Bücher