Weißer Mond von Barbados
London sich so stark machte und Loder alle Befugnisse erhielt. Darum auch hatte Loder keine Zeit gehabt, mit ihm zu lunchen. – Sverdlov! –
Wenn er herüberkam, so brachte er das halbe Agentennetz der Sowjets zum Einsturz. Nicht nur in Amerika, in der ganzen Welt. Für den Augenblick vergaß Fergus, wie verhängnisvoll seine Situation war. Die Sowjetunion würde einen weltweiten Prestigeverlust erleiden. Wenn Sverdlovs Flucht gelang. – Das mußte er verhindern. Und er durfte nicht zögern. Die Dringlichkeit, die aus dem Londoner Telegramm herauszulesen war, zeigte, daß der Fall eilte. Also mußte auch er sich beeilen.
Er besaß eine geheime Telefonnummer, die er bisher nie benutzt hatte, sie war nur für den Fall höchster Gefahr bestimmt. Für seine üblichen Informationen hatte er einen anderen Weg.
Ein großes Schallplattengeschäft in der City war gewissermaßen sein hohler Baumstamm. Er war dort regelmäßiger Kunde, seine Vorliebe für klassische Musik, speziell auch für alte Musik, war bekannt. Jede Woche einmal ging er in das Geschäft, ließ sich Platten vorlegen und auch vorspielen, und hier und da kaufte er etwas.
Er benutzte immer die gleiche Vorspielkabine, und wenn er eine Nachricht weiterzugeben hatte, steckte er den kleinen Zylinder, der den Mikrofilm enthielt, in ein bestimmtes Loch der schalldichten Wand. Da seine Besuche in dem Geschäft stets zu einer bestimmten Zeit stattfanden, war auch sein ihm unbekannter Kontaktmann zur gleichen Zeit in dem Laden. Der holte sich dann den Film aus dem Versteck und leitete ihn weiter.
Heute war dieser Weg zu umständlich. Er mußte telefonieren. Nachdem er ruhiger geworden war, verließ er den Waschraum. Er durfte nichts Unbedachtes, nichts Auffälliges tun. Natürlich durfte er auch nicht aus dem Botschaftsgebäude telefonieren. Das war eine Regel seines Doppellebens, die er immer streng beachtet hatte: nie etwas tun, was sich in die Botschaft zurückverfolgen ließ. Telefonieren also mußte er aus der Stadt. Zunächst aber hatte er zwei Verabredungen, zwei Besprechungen, die er nicht absagen konnte. Nur die Nerven nicht verlieren. Keine Panik. – Es war Freitag Mittag – wenn er nach seinen Besprechungen irgendwohin fuhr, wo er ungestört telefonieren konnte, blieb ihnen Zeit genug, alles Nötige zu veranlassen. Das Wochenende war eine günstige Zeit dafür.
Man konnte Sverdlov unbemerkt an Bord einer Ilyushin bringen und nach Russland fliegen, das würde keinem auffallen.
Fergus Stephenson betrat mit ruhiger Miene sein Büro und erledigte die beiden Besprechungen mit gewohnter Routine und Gelassenheit.
Nur seine Hände zitterten ein wenig. Und er rauchte ununterbrochen.
Judith hatte schon am Morgen Sam Nielson in seiner Wohnung angerufen. Sie hatte sich gut überlegt, was sie sagen wollte, denn Nielson war in letzter Zeit ein wenig ungeduldig und gereizt gewesen, kein Wunder bei ihrer Zerstreutheit und ihrer häufigen Bitte, früher gehen zu dürfen. Besser, sie versuchte es diesmal mit einer Lüge.
Seine Frau war am Apparat. Judith bemühte sich, heiser zu sprechen. Sie habe eine Halsentzündung und Fieber, sagte sie, leider könne sie nicht ins Büro kommen. Aber sie hoffe, bis Montag wieder gesund zu sein. Sie hustete noch ein bißchen und hängte rasch ein, ehe Sam Nielson selbst ans Telefon kam.
Nancy war mit ihrem neuen Freund bereits zu einem längeren Wochenende weggefahren, das war sehr günstig.
Judith betrachtete sich längere Zeit im Spiegel. Nancy hatte ganz recht. Sie sah wirklich miserabel aus. Auch in der vergangenen Nacht hatte sie kaum geschlafen. Feodor Sverdlov kostete sie mindestens zehn Jahre ihres Lebens.
Sie hatte keinen Appetit auf ihr Frühstück, der Kaffee schmeckte bitter. Sie trank zwei Gläser Orangensaft und packte dann ein kleines Köfferchen, sie würde ja höchstens nur ein oder zwei Tage unterwegs sein.
Bis jetzt hatte sie noch nicht darüber nachgedacht, wie sie von Barbados zurück nach New York kommen würde, aber es gingen ja genug Flugzeuge, in einem würde sie schon Platz finden. Es war unmöglich, jetzt darüber nachzudenken. Ihre Gedanken endeten immer nur bei dem Moment, wo Feodor endlich in der Maschine sitzen würde, die nach London flog. Alles was nachher kam, war fernste Zukunft.
Warum hatte sie nur so schreckliche Angst? Das bestimmte Gefühl, daß etwas geschehen würde, etwas, woran sie nicht gedacht hatten. Sverdlov war viel zuversichtlicher als sie. Nur noch ein paar Stunden.
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