Weißer Mond von Barbados
Weg, Amerika auf harmlose Weise zu verlassen und sich in eine frühere britische Kolonie zu begeben. Sverdlov handelte nach kühner Geheimdienstmanier – nicht im Geheimen, sondern im hellen Tageslicht, unter aller Augen mußte eine gewagte Operation ausgeführt werden.
Sverdlov hatte die Vereinigten Staaten verlassen, sein Ziel war eine westindische Insel, wo es weitaus schwieriger sein würde, etwas zu unternehmen, ihn zu entführen oder zu töten, ohne die Öffentlichkeit daran teilnehmen zu lassen.
Golitsyn war es nicht gewöhnt, ohne Befehl zu handeln. Also kabelte er zunächst einmal nach Moskau an Panyushkin und erbat Instruktionen.
Der General war einem Schlaganfall nahe. Nur zu klar war er sich über sein eigenes Versagen. Er hatte diese ganze Sache angefangen, er hatte Sverdlov misstraut, hatte ihn bespitzelt und bewacht, hatte Kalinin unter Drogeneinfluß nach Moskau bringen lassen, wo man in der Lubjanka aus ihm herausgeholt hatte, was man wissen wollte, hatte Anna Skriabine auf den Gehassten angesetzt, aber alles, was er schließlich erreicht hatte, war die Tatsache, daß Sverdlov zu den westlichen Feinden überlief. – Die Strafe von Panyushkin würde furchtbar sein.
Das einzige, was zu tun blieb: er mußte Sverdlov finden und an Bord eines Flugzeuges bringen, das in den Osten flog. Oder er mußte ihn töten.
Der General sprach mit Stukalov in New York, sparte auch dort nicht mit Vorwürfen und Drohungen, er sprach mit dem Sowjetischen UN-Botschafter und schließlich mit dem eigenen Botschafter in Washington. Hier bekam er den klugen Rat, auf den er eigentlich selbst hätte kommen müssen.
Wenn Sverdlov wirklich überlaufen wolle, sagte der Botschafter kühl, was ja wohl bis jetzt nur eine Vermutung sei, so könne man annehmen, daß er nicht mit leeren Händen zu seinem britischen Gastgeber kommen würde. Hatte man sich schon davon überzeugt, ob in den Geheimakten etwas fehle?
Der zitternde Chef der Geheimakten-Abteilung öffnete in Gegenwart Golitsyns und des Botschafters den Safe, er erinnerte sich genau an Sverdlovs gestrigen Besuch und welche Akten eingesehen worden waren.
Die letzte Kopie von ›Blau‹ fehlte. War durch einige nichts sagende Blätter aus einem anderen Bericht ersetzt. In dem Aktenraum der Geheim-Abteilung herrschte tödliches Schweigen. Alle waren sich darüber klar, was geschehen war. Und alle hatten Angst.
General Golitsyn brach das Schweigen. Er hatte einen Entschluß gefaßt.
Bisher hatte er nur zweimal in seinem Leben in einer wichtigen Frage ohne Befehle gehandelt: als er die verbotenen Bücher seines Lehrers versteckte und als er die rote Fahne auf sein Gewehr band und für die Revolution marschierte. Dies war der dritte Fall. Und gewiß der letzte in seinem Leben.
»Ich kann nicht auf General Panyushkins Befehle warten«, sagte er. »Sverdlov hat Dokumente von ›Blau‹ gestohlen. Wir müssen ihn finden.«
Keiner gab eine Antwort. Der Botschafter trat mit eisiger Miene zur Seite, als Golitsyn den Raum verließ.
Spät in der Nacht startete von San Francisco eine gecharterte Maschine mit vier Passagieren an Bord. Sie landete in den frühen Morgenstunden, gegen fünf Uhr, auf dem Seaways Airport auf der Insel Barbados.
Die vier Passagiere, alles Männer, waren ihrem Paß nach Kanadier. Sie schienen sehr gut gelaunt zu sein, reiche Müßiggänger, unterwegs zu ihrem Vergnügen, einer war ein wenig betrunken und erzählte dem verschlafenen Zollposten, daß sie eine Tour durch die Insel vorhätten.
Sie verlangten einen Wagen zu mieten, was zu dieser frühen Stunde einige Schwierigkeiten machte. Sie mußten eine Weile auf den Wagen warten, worüber sie laut schimpften. Als Adresse auf der Insel gaben sie das schickste Hotel an der Atlantikküste an, es war früher der Landbesitz des reichen Grundbesitzers Sam Lord gewesen, der auch als höchst erfolgreicher Schmuggler in die Geschichte Barbados' eingegangen war.
Daran erinnerten sich die beiden Männer von der Zoll- und Passkontrolle noch, als später die Untersuchungen begannen. Allerdings war der Wagen mit den vier frühen Touristen niemals auf Sam Lord's Castle angekommen.
Es war bereits dunkel, als sie auf dem Seaways Airport landeten. Die Nacht war sehr schwarz, so kam es Judith vor, der weiße Mond von Barbados, an den sie sich so gut erinnerte, war diesmal nicht zu sehen.
Ein kühler, stetiger Wind bewegte die Bäume und die Palmen. Und als sie über das Flugfeld gingen, glitzerten Regenpfützen im
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