Weißer Mond von Barbados
ist?«
»Habe ich schon getan«, sagte Sverdlov. »Ich kenne den Weg.«
»Das hätte ich mir denken können.«
Als sie um eine Kurve fuhren, fiel sie gegen ihn. Er blickte sie an und grinste. »Das war fein, wirklich ein praktischer Wagen.«
Am vorigen Tag hatte er versucht, sie zu küssen. Sie waren quer über die Insel gefahren, um auch einmal die Ostküste kennen zu lernen, die besonders schön sein sollte, wie man ihnen gesagt hatte. Judith jedoch fand den wilden offenen Atlantik, der stürmisch gegen die schwarzen Felsen tobte, beängstigend. Es deprimiere sie, sagte sie. Und dort oben auf dem Felsen, wo sie ganz allein waren und der heftige Wind, der vom Meer kam, sie bald umwarf, hatte Sverdlov sie an sich gezogen; aber sie hatte ihn abgewehrt, hatte gesagt: »Nein!« und war zum Wagen gegangen. Er stieg ebenfalls ein, zündete eine Zigarette an, die er ihr gab. Er war weder beleidigt noch verärgert, es schien, als amüsiere ihn die Situation. Gesprochen wurde über den Zwischenfall nicht.
Er fand mühelos das Bridgetown-Museum und parkte den Wagen im Schatten unter den Königspalmen. Die Sonne stand nun schon hoch, und der Himmel über ihnen war von einem tiefen Blau, nicht die kleinste Wolke war zu sehen.
»Es gefällt mir so gut auf dieser Insel«, sagte Judith plötzlich, »ich fühle mich so wohl hier.« Impulsiv hob sie die Hand und schob sie unter seinen Arm.
Er drückte ihre Hand leicht an sich. »Das ist fein«, sagte er, »es macht mich glücklich, wenn Sie glücklich sind. Und jetzt wollen wir gehen und ein bißchen in Kultur machen. Und dann fahren wir an den Hafen, ich sehe Schiffe so gern.«
In dem Museum war es kühl und dunkel; ein lang gestrecktes schweres Gebäude mit massiven Mauern, früher war es eine Kaserne gewesen.
Sverdlov blieb im ersten Raum stehen, die Hände auf dem Rücken, und blickte sich abwesend um. In einem Glaskasten waren einige chinesische Teller ausgestellt, die aus der Residenz eines früheren Gouverneurs stammten. Judith war inzwischen langsam weitergegangen.
»Kommen Sie her«, rief sie, »das ist wirklich interessant!«
Er war so tief in Gedanken versunken – Gedanken, die nicht den Schätzen des kleinen Museums von Barbados galten –, daß sie ihn noch einmal rufen mußte.
»Ja? Ja, ich komme.«
Er fand sie im übernächsten Raum über einen Kasten gebeugt, dessen Glasscheibe von Fliegen beschmutzt war. Darin befand sich ein vergilbtes Blatt Papier, es war eine Art Bekanntmachung, sie stammte aus der Zeit des Sklavenhandels, und es war darauf zu lesen, daß soundsoviel männliche und weibliche Sklaven sowie einige Haustiere zum Verkauf angeboten wurden. Doch außerdem gab es noch ein zweites Dokument, ebenfalls alt und verfärbt, die Schrift kaum mehr leserlich, und das war es, was Judith so faszinierte.
»Sehen Sie nur!« sagte sie. »Ist das nicht schrecklich!«
Er stand so dicht neben ihr, daß ihre Körper sich berührten. »Was?« fragte er amüsiert und betrachtete mit verstohlener Zärtlichkeit ihr eifriges Gesicht.
»Passen Sie auf, ich werde es Ihnen vorlesen. Hier steht folgendes: Der Sklave Miguel von Haywards Pflanzung, St. Peter, ward angeklagt, ein Schaf gestohlen zu haben, und ward am Tag darauf an einem Tamarindenbaum zur Strafe für sein Vergehen aufgehängt. Solange noch Atem in ihm war, beschwor er seine Unschuld. Und seine letzten Worte lauteten: ›Der Tamarindenbaum, an dem ich sterbe, wird mein Zeuge sein, er wird die Wahrheit ans Tageslicht bringen.‹ – Und fürwahr, im Jahre darauf trug dieser Tamarindenbaum Früchte, die geformt waren wie der Kopf des Getöteten. Und seit damals bis auf den heutigen Tag zeugt der Tamarindenbaum von der Unschuld des Erhängten.«
Mit großen Augen blickte Judith auf.
»Was sagen Sie dazu? Ist das nicht toll? Und sehen Sie, hier sind die Früchte des Tamarindenbaums zum Vergleich. Links – so sieht eine normale Frucht aus, und rechts … das ist eine von dem Baum von Haywards Pflanzung. Sehen Sie sich das bloß an, es sieht wirklich aus wie der Kopf eines Negers.«
»Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie diesen Unsinn glauben?«
»Aber Sie sehen es doch! Vergleichen Sie doch! Das ist doch der Beweis.«
»Was hat es dem Sklaven geholfen? Man hat ihn trotzdem aufgehängt.«
»Ich möchte wissen, was sein Herr empfand, als er die Früchte des Tamarindenbaumes sah.«
»Sie denken, daß ihm das was ausgemacht hat? Sie denken doch nicht etwa, daß er ein Gewissen
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